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Das Wunder von Haiti

Auf den ersten Blick hat sich das ärmste Land der westlichen Hemisphäre vom Erdbeben erholt.
Auf den ersten Blick hat sich das ärmste Land der westlichen Hemisphäre vom Erdbeben erholt. ©APA
Wer drei Jahre nach der Erdbebenkatastrophe mit 217.000 Toten durch die Straßen der Millionenstadt Port-au-Prince fährt, dem wird es wohl ähnlich ergehen wie Caritas-Präsident Franz Küberl. Am Ende bleibt nur Staunen und Rätseln, wie es möglich war, in so kurzer Zeit eine völlig zerstörte Metropole wieder aufzubauen, kein Schutt, keine Ruinen, an allen Ecken reges Treiben mit Schaufel und Spitzhacke.
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Doch diese wundersame Wandlung vom apokalyptischen Höllenschlund in eine einigermaßen funktionierende Megacity bleibt nicht ohne Folgen. Denn die Haitianer müssen sich nun langsam mit einem ganz anderen Problem herumschlagen – nämlich mit der Tatsache, dass sie nach wie vor im ärmsten Land der westlichen Hemisphäre leben.

Bereits 400 Häuser an gebeutelte Familien übergeben

Gressier, eine Kleinstadt mit einigen Zehntausend Einwohnern, etwa eine Autostunde (also rund 20 Kilometer) von Port-au-Prince entfernt, ist Schauplatz einer ungewöhnlichen Veranstaltung. Irgendwo ganz oben auf den ausgedörrten, staubigen Hügeln werden Hymnen angestimmt und Reden gehalten. Zwischen Müllhalden und Mauerresten, wo dürre Hunde dürre Ziegen verbellen, übergibt die Caritas Österreich in Person ihres Präsidenten das insgesamt 400. Haus an eine vom Erdbeben besonders gebeutelte Familie. Es ist 34 Quadratmeter groß, hat drei Räume, ein Blechdach, ein festes Fundament und besteht aus gepressten, vibrierten Mörtelblöcken. Schließlich soll es Erschütterungen mit der Stärke 7,5 rund eine Minute lang aushalten.

“Erntedankfest” der besonderen Art

Küberl spricht in diesem Zusammenhang von einem “Erntedankfest” der besonderen Art, wenn Spendengelder urplötzlich derart greif- und sichtbar werden. 12.500 Euro kostet ein Haus, das mehreren Personen, die in den vergangenen drei Jahren in windschiefen Hütten ausharren mussten, eine Existenzgrundlage bietet. So lobte die österreichische Honorar-Konsulin in Haiti, Ingrid Hackenbruch, eine Frau, die auf ihrem Handy die halbe Welt gespeichert zu haben scheint, ausdrücklich die Spender – und tadelte ausdrücklich die magere Hilfe der Bundesregierung. “Aus kaum einem Land kommt so viel. International wird das sehr positiv wahrgenommen.” Ebenfalls wahrgenommen, jedoch keineswegs positiv, würden die Aktivitäten der Regierung. “Von dieser Seite kommt leider sehr wenig”, sagt Hackenbruch enttäuscht.

Schwachstelle der österreichischen Außenpolitik

Für den Caritas-Präsidenten einmal mehr die Bestätigung für seine seit langem formulierte und nicht enden wollende Kritik an dieser “nicht zu übersehenden Schwachstelle der österreichischen Außenpolitik”: “Auf Regierungsebene gibt es seit Jahrzehnten kein Bewusstsein und keine Strukturen, wie wir als wohlhabendes Land an Krisenherden helfen sollen.” Norwegen, Schweden, Dänemark, Deutschland oder auch Kanada würden diesbezüglich gute Vorbilder abgeben. “Es wäre wichtig für Österreich, sich endlich eines zu nehmen.”

Eigentümer der Caritas-Häuser sehr dankbar

Heißer Wind fegt über die steilen Abhänge, die bis hinunter zum blitzblauen, an manchen Stellen türkisfarbenen Meer reichen. 50 Meter unterhalb der Zeremonie ist der Applaus immer noch schwach zu vernehmen. Annabel Mouchely hört ihn nicht. Sie ist die Eigentümerin des 399. Caritas-Hauses, das sie seit zwei Tagen bewohnt. In die weißgrauen Mauerziegel hat sie Nägel getrieben, um kleine, halb durchsichtige Vorhänge anzubringen. Im “Wohnzimmer” steht eine Kommode, vollgeräumt mit Stofftieren, in einem der Nebenräume befindet sich ein Bett und diverser Hausrat. Das dritte Zimmer steht leer. Annabel Mouchely ist 64, hat spät ihre beiden Kinder bekommen und lebt nun mit sechs anderen Familienmitgliedern in dem neuen, ungewohnten Eigenheim.

“Haiti hat mir viele Träume geraubt”

Ja, sie freue sich. Sehr sogar. Und sie danke Gott dafür, und der Caritas. Und Österreich. Sie reicht ihre Hände, der Druck ist schwach, die Haut wie Backpapier. Ihr Gesicht bleibt versteinert, nicht einmal der Ansatz eines Lächelns mag ihr über die trockenen Lippen und eingefallenen Wangen huschen. Drei Jahre Wellblechverschlag haben ihre Spuren hinterlassen. Annabel Mouchely wird vielleicht nie wieder lächeln, was aber nicht auf ihr für haitianische Verhältnisse nahezu biblisches Alter schließen lassen soll. Der Körper ist intakt, die Seele leer. “Schauen sie mich an, wie ich aussehe. Früher war ich das Doppelte.” Sie verkauft Kosmetik-Produkte auf dem lokalen Markt und verdient damit unregelmäßig ein paar Gourde. “Ich denke viel nach über Haiti. Haiti hat mir viele Träume geraubt.” Über die Zukunft macht sie sich keine Gedanken: “Nur Gott weiß, was wir tun werden. Aber Hoffnung habe ich für dieses Land keine.”

Viele Fragen bleiben offen

Port-au-Prince mag aufgeräumt wirken, nahezu wiedergeboren. Doch bei genauem Hinsehen bleiben viele Fragen offen. Zum Beispiel: Was tun mit den immer noch 347.000 IDPs, jenen Flüchtlingen, jenen Obdachlosen, die weiterhin unter Plastikplanen und Wellblech ein menschenunwürdiges Dasein fristen. Es mögen ursprünglich 1,5 Millionen IDPs (Internal Displaced Persons) gewesen sein, diesen Umstand will Küberl keineswegs kleingeredet wissen: “Das ist schon ein Erfolg. Nur, die Gefahr bei der Sache ist: Je länger eine Vielzahl von Menschen in solchen temporären Behausungen lebt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass daraus ein Slum wird.” Darum brauche es Bildung, ärztliche Versorgung, soziale Betreuung – wovon es derzeit an allen Ecken und Enden mangelt.

Fundamentale Armut besteht weiter

“Punkto Behebung der fundamentalen Armut geht in Haiti nicht viel weiter”, muss sich auch Küberl eingestehen. Deshalb bleibt die Caritas im Land, will noch weitere 100 Häuser bauen, ruft sogenannte Livelihood-Projekte ins Leben, wo Familien beim Anbau von Gemüse geholfen wird, finanziert Mikrokredite, um Kleingeschäfte zu finanzieren. Die Bilanz der “Erntedank-Reise” ist beeindruckend: 400 neue, dazu 260 renovierte Häuser, ein hypermodernes Waisenhaus für 150 Mädchen und einen Kindergarten für 1.200 Sprösslinge aus den Slums konnten ihrer Bestimmung übergeben werden.

Politiker Haitis sind am Zug

Aber was bedeutet das für Haiti und für die Weltgemeinschaft, für die Hilfsorganisationen, die permanent von einem “Hotspot” zum nächsten ziehen – Stichwort: Flüchtlingssituation in Syrien. Für Küberl steht fest, dass die NGOs der haitianischen Regierung nicht alles abnehmen werden. “Wir können nicht auf Dauer die Erwerbsarbeit stimulieren. Außerdem wäre eine kollektive Entängstigung der Bevölkerung wichtig. Auch Bildung und Schulsystem liegen im Argen.” Die Politiker seien am Zug, sie müssten nun zeigen, wie sehr ihnen ihr Land am Herzen liegt. Wo die Caritas mitgeholfen habe, da sei die Situation ohnehin “eine bessere wie vorher”, sagt Küberl vor allem in Hinblick auf die erdbebensicheren Häuser. “Aber mit Leben füllen müssen sie die Menschen selbst.” (APA)

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