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„Ihrem Leben einen Sinn geben“

©Handout/Privat
Murtada Alhusseini (29) hat selbst einen Fluchthintergrund und arbeitet bei der OJA Dornbirn als Jugendsozialarbeiter.

von Martin Begle/Wann & Wo

WANN & WO: Wie sieht der Tagesablauf von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen aus?

Murtada Alhusseini: Sie stehen auf und gehen sofort raus, weil ihnen keine andere Möglichkeit bleibt. Der Bahnhof ist der Haupttreffpunkt. Jetzt, wo das Wetter schön ist, meistens in Bregenz. Im Winter war aber noch der Bahnhof Dornbirn für viele Jugendliche ein Ort, wo man sich getroffen hat. Ins Jugendzentrum können sie zu fixen Zeiten kommen, aber nicht den ganzen Tag.

WANN & WO: Was könnte diese Situation ändern?

Murtada Alhusseini: Der Status und die Arbeitserlaubnis sind ein riesiges Thema. Viele bleiben einfach zuhause und machen nichts, andere gehen eben zum Bahnhof. Wenn sie – und sei es nur um sehr wenig Lohn – arbeiten dürften, würde das ihrem Leben einen Sinn geben, sie würden sich etwas mehr wert fühlen. Sie wären beschäftigt, würden etwas Geld verdienen, hätten Kontakt zu anderen Leuten und würden so auch die Sprache besser lernen. So bleibt ihnen nur, zuhause zu sitzen und abzuwarten. Ohne Perspektive oder Gewissheit für die Zukunft.

WANN & WO: Ist Alkohol bei den Jugendlichen ein Thema?

Murtada Alhusseini: Für die Jugendlichen, die ich kenne, nicht. Am wichtigsten ist ihnen das Rauchen. Ich selbst habe früher geraucht und versuche, ihnen zu erklären, warum ich das nicht mehr mache. Es ist teuer, ungesund und wenn man nur 140 Euro im Monat hat, ist das Geld für wichtigere Dinge nötig.

WANN & WO: Rauchen die Jugendlichen aus Langeweile?

Murtada Alhusseini: Es gibt eine Studie, die sagt: Wenn man das Gefühl hat, dass man etwas braucht, aber nicht genau weiß, was es ist, dann kann Rauchen ein Ersatz sein. Für die Jugendlichen scheint das zu funktionieren: Wenn sie rauchen, sind ihre Probleme und die Unsicherheit, in der sie leben, für ein paar Minuten weg. Auch für mich als Security im Irak war es eine Möglichkeit, aus einer Realität mit Bomben und Toten jeden Tag zu flüchten.

WANN & WO: Wie stark ist diese Realität noch präsent?

Murtada Alhusseini: Ich habe heute noch Angst, wenn ich alleine unterwegs bin, weil ich es so gewohnt bin. Ich bin gut ausgebildet und kann mich verteidigen, aber ein echtes Gefühl der Sicherheit ist nie da. Ich sehe jeden Tag, dass sich an der Situation in der Heimat nichts geändert hat. Wenn ein Auto neben mir etwas langsamer fährt, läuten bei mir die Alarmglocken. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es den Jugendlichen damit geht. Aber es ist darum auch verständlich, dass sie sich als Treffpunkt einen Ort mit vielen Menschen, wie den Bahnhof, aussuchen.

WANN & WO: Was geht in einem Jugendlichen vor, wenn er in der Zeitung sieht, dass über Jahre gut integrierte Familien abgeschoben werden?

Murtada Alhusseini: Das macht alles schlimmer. Wenn sie sehen, dass man trotz aller Bemühungen keine Sicherheit hat, ist das sehr schlecht für ihre Motivation. Speziell für die Jugendlichen ist das schwierig. Sie denken, wenn sie die Sprache lernen und sich an die Regeln halten, dürfen sie bleiben. Die Älteren verstehen das, aber die Jugendlichen glauben, es sei nur die Aufgabe, in die Schule zu gehen, Deutsch zu lernen, brav zu sein. Es ist aber nicht so, dass dadurch automatisch ein positiver Bescheid kommt.

WANN & WO: Wie siehst du die Symbolik solcher Abschiebungen?

Murtada Alhusseini: Das signalisiert den Jugendlichen, dass sie keine Chance haben: Wenn Leute abgeschoben werden, die jahrelang hier sind, arbeiten und gut Deutsch sprechen, einen negativen Bescheid bekommen. Dann wissen sie nicht, was sie machen können, damit ihrer positiv wird. Dieser Schwebezustand ist schlimm. Sie möchten sich einfach so fühlen, wie andere Jugendliche. Ich habe geweint, als ich endlich einen Zettel hatte, der sagte, ich bin ein Mensch, und zum ersten Mal nach Lindau ausreisen durfte.

Die gesamte Ausgabe der Wann & Wo lesen Sie hier!

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