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Forschung überrascht: So komplex arbeitet unser Gehirn wirklich

Entscheidungen entstehen im Gehirn nicht Schritt für Schritt, sondern parallel in vielen Regionen.
Entscheidungen entstehen im Gehirn nicht Schritt für Schritt, sondern parallel in vielen Regionen. ©CANVA
Entscheidungen entstehen im Gehirn nicht Schritt für Schritt, sondern parallel in vielen Regionen. Eine Studie mit Mäusen stellt langjährige Theorien infrage.

Was bisher wie ein klarer Ablauf wirkte, zeigt sich nun als komplexes Zusammenspiel: Entscheidungen entstehen im Gehirn nicht hierarchisch, sondern verteilt und gleichzeitig in mehreren Regionen. Ein internationales Forschungsteam hat das nun eindrucksvoll an Mäusen belegt – mit Erkenntnissen, die auch für die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz von Bedeutung sein könnten.

Entscheidungsfindung als Netzwerkphänomen

Entscheidungen fühlen sich oft wie ein einzelner Impuls an. Doch im Gehirn laufen dabei weit mehr Prozesse ab als bislang angenommen. Forscher:innen des International Brain Laboratory (IBL) – einem Zusammenschluss von über 20 Forschungseinrichtungen, darunter das University College London und die Princeton University – ist es gelungen, die neuronale Aktivität bei Entscheidungen nahezu flächendeckend zu erfassen.

In einem standardisierten Versuchsaufbau trainierten die Wissenschaftler:innen 139 Mäuse darauf, bei einem visuellen Reiz ein Rad zu drehen, um eine Belohnung zu erhalten. Während dieses simplen, aber kontrollierbaren Entscheidungsprozesses maßen sie die Aktivität von Hunderttausenden Neuronen in fast allen Bereichen des Gehirns. Das Ergebnis: Die Verarbeitung von Entscheidungssignalen erfolgt nicht sequentiell von A nach B, sondern synchron in zahlreichen Regionen – selbst in solchen, die vorrangig für Sinneswahrnehmung oder Bewegung zuständig sind.

Altes Modell unter Druck: Kein Dominoprinzip im Kopf

Die Vorstellung, dass Entscheidungen wie in einem Dominospiel nacheinander von einer Hirnregion zur nächsten weitergereicht werden, kommt mit dieser Studie ins Wanken. Stattdessen zeigen die Daten: Der Entscheidungsprozess ist ein vernetztes Geschehen. Schon lange gab es in der Fachwelt die Vermutung, dass das Gehirn eher parallel arbeitet – nun liegen erstmals Daten vor, die diese Hypothese stützen.

„Es ist, als hätten wir immer vermutet, wie ein Film ausgeht, ohne je das Ende gesehen zu haben – jetzt wurde es uns endlich gezeigt“, kommentierte Juan Lerma vom Spanischen Nationalen Forschungsrat gegenüber dem Science Media Centre España, wie das Magazin Wired berichtet.

Auch eine zweite, ebenfalls im Fachjournal Nature publizierte Arbeit des Teams untermauert diesen Befund. Sie zeigt, dass nicht nur Entscheidungen selbst, sondern auch Vorerfahrungen und Erwartungen im Gehirn breitflächig kodiert sind – also ebenfalls kein „zentraler Speicherort“ für Erinnerung oder Erwartung existiert.

Gehirn denkt anders: Entscheidungen entstehen nicht hierarchisch
©DPA

Kleine Mäuse, große Erkenntnisse

So wegweisend die Studie ist, so wichtig bleibt die Einordnung: Die Ergebnisse stammen aus dem Gehirn von Mäusen, nicht von Menschen. Zwar lassen sich viele Prinzipien auf das menschliche Gehirn übertragen – mit seinen rund 86 Milliarden Neuronen ist es aber um ein Vielfaches komplexer. Ein vollständiges Verständnis menschlicher Kognition liegt also noch in weiter Ferne.

Dennoch: Die Forschung liefert wertvolle Hinweise – besonders für die Weiterentwicklung von Künstlicher Intelligenz. Denn aktuelle KI-Systeme basieren meist noch auf streng hierarchischen Modellen. Die neuen Erkenntnisse könnten helfen, maschinelle Netzwerke zu entwickeln, die dem Gehirn näherkommen: dynamischer, flexibler und weniger linear.

Offene Daten, offener Fortschritt

Einen zusätzlichen Impuls für die Forschung könnte der offene Umgang mit den gewonnenen Daten geben. Das International Brain Laboratory hat den gesamten, riesigen Datensatz öffentlich zugänglich gemacht. Weltweit können Forscher:innen damit weiterarbeiten, Analysen anstellen oder die Ergebnisse überprüfen – ganz ohne das aufwendige Originalexperiment wiederholen zu müssen.

Dieser offene, kollaborative Ansatz könnte die Neurowissenschaft spürbar beschleunigen. Und er zeigt: Wissenschaft ist dann am stärksten, wenn sie nicht im Elfenbeinturm bleibt, sondern ihre Türen öffnet.

(VOL.AT)

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