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Dornbirns Sonderweg: "War schon vor 30 Jahren ein Blödsinn"

Armin Fidler hat für die Weltbank Gesundheitssysteme reformiert, in Harvard studiert und Regierungen auf drei Kontinenten beraten. Jetzt beobachtet der Vorarlberger Public-Health-Experte, wie seine Heimat über zwei Geburtenstationen streitet, die zehn Kilometer auseinanderliegen. Sein Urteil ist vernichtend.

"Vom Bürgermeister runter bis in die Ärzteschaft" – beleidigt seien sie alle, sagt Fidler. Wie der frühere Weltbank-Berater Dornbirns Sonderweg zerlegt – und warum er die Angst vor längeren Fahrzeiten für "ausgekochten Blödsinn" hält.

"Die Leute haben das Gefühl, man nimmt ihnen etwas weg"

Armin Fidler hat keine Geduld für Aufwärmrunden. "Mich macht betroffen, dass die Leute immer das Gefühl haben: Um Gottes willen, jetzt wird da was geschlossen und man nimmt mir was weg", sagt er. In einer Debatte, die längst mehr Emotion als Argument kennt, will der 67-Jährige "eine unaufgeregte, nicht involvierte Stimme" sein.

Nicht bei der Ärztekammer, nicht beim Land, nicht bei der Krankenhausbetriebsgesellschaft – Fidler betont, er habe "no skin in the game". Drei Jahrzehnte lang hat er Regierungen beraten, wie sie ihre Gesundheitssysteme reformieren können. Weltbank, WHO, Harvard. Jetzt beobachtet er von außen, wie seine Heimat über zwei Geburtenstationen streitet.

Was er in Vorarlberg beobachtet, kennt er aus der ganzen Welt: "Zusammenlegung von Krankenhäusern, Zusammenlegung von Abteilungen, Etablierung von ambulanten Polykliniken – genau die gleiche Thematik. In den USA, in der Schweiz, in Deutschland. Das spielt sich nicht nur im kleinen Vorarlberg ab."

"Ökonomischer Schwachsinn"

Fidlers Kernkritik: zu viel Emotion, zu wenig Evidenz. "Medizin ist ein Volumensbusiness", sagt er. Eine sichere Geburtshilfe brauche nach internationalen Standards mindestens 1500 Geburten pro Jahr. Das sei die Untergrenze – alles darunter gefährde die Qualität.

Eine normale Geburt sei keine Krankheit, sagt Fidler. Aber wenn es kompliziert wird – und das passiert immer wieder –, brauche das Team Erfahrung. Viel Erfahrung.

Noch heikler: die Frühgeborenen. "Neonatologie ist Hightech", sagt er. Ein Team müsse rund um die Uhr bereitstehen, 24/7, gewappnet für den Ernstfall.

Zwei Neonatologien, eine in Bregenz, eine in Dornbirn – für Fidler ist das nicht tragbar. "Wir haben viel zu wenig Belag", sagt er. Zu wenige Frühchen für zwei Stationen, die rund um die Uhr besetzt sein müssen. "Mit zwei Patienten drinnen. Das ist ein brutaler Aufwand." Fidler redet nicht um den heißen Brei. Er hat Gesundheitssysteme auf drei Kontinenten umgebaut, er kennt die Widerstände, er kennt die Argumente. Und er kennt die Zahlen. Zehn Kilometer liegen zwischen Dornbirn und Bregenz. Zehn Kilometer, zwei Geburtshilfen, zwei Neonatologien. "Das ist absoluter, auch ökonomischer Schwachsinn", sagt er.

"War schon vor 30 Jahren ein Blödsinn"

Besonders hart geht Fidler mit Dornbirn ins Gericht. Die Stadt habe sich jahrzehntelang hinter einem Argument verschanzt: "Wir sind die Stadt Dornbirn, wir sind die größte und reichste Stadt, wir leisten uns unser eigenes Krankenhaus", sagt er. "Das war schon vor 30 Jahren ein Blödsinn."

Ein Bundesland mit 400.000 Einwohnern könne sich solche Sonderwege nicht leisten, sagt Fidler. Dornbirn hätte schon vor Jahrzehnten Teil der Landeskrankenhäuser werden sollen. Dass die Stadt bis heute ihren eigenen Status pflegt, sei weder im Sinne der Bevölkerung noch der Ökonomie.

Irgendwann habe das Land dann "ein bisschen Druck gemacht", sagt Fidler. Wer Millionen zuschießt, will mitreden – eine Logik, die in Dornbirn offenbar schwer zu vermitteln sei. Dass die Stadt verschnupft reagiere, wundere ihn nicht. "Vom Bürgermeister runter bis in die Ärzteschaft" – beleidigt seien sie alle.

Personal, Dienstpläne, Ausbildung: Warum größer aus seiner Sicht besser ist

Neben Qualität und Kosten nennt Fidler einen dritten Punkt: das Personal. Viele Pflegekräfte arbeiten heute Teilzeit, sagt er, selbst im ärztlichen Bereich sei Vollzeit keine Selbstverständlichkeit mehr. Einen Dienstplan für eine Abteilung zu schreiben, die 24 Stunden am Tag "voll auf Zack sein muss" – mit einem kleinen Team sei das "wahnsinnig schwer".

Fällt jemand aus, wird es eng. Krankheit, Mutterschutz, Kündigung – schon stehe man vor einem "ganz großen Problem". Fidlers Schluss: Je größer die Abteilung, desto einfacher die Dienstplanung.

Auch die Ausbildung leide unter den Kleinststrukturen. "Als junger Arzt kriegst du in einer großen Abteilung, wo du viel siehst, natürlich eine bessere Ausbildung als in einer winzig kleinen, wo du fast nichts siehst", sagt Fidler. Wer Facharzt werden will, brauche Fälle. Viele Fälle.

Armin Fidler. ©Mirjam Mayer

"Notfalls kann jeder Zahnarzt eine Geburt begleiten"

Bleibt das Argument, das in jeder Diskussion fällt, an jedem Stammtisch, in jeder Leserbriefspalte: die Fahrzeiten. Stell dir vor, heißt es dann, du hast Wehen und musst zehn Kilometer weiter fahren. Stell dir vor, das Baby kommt im Auto. Es ist der emotionalste Vorwurf der Gegner, und er zieht. Bei Eltern, bei Großeltern, bei allen, die schon einmal eine Geburt erlebt haben. Fidler kennt diese Ängste. Und hält sie für grundlos. "Das ist natürlich alles ein ausgekochter Blödsinn", sagt er.

Die allermeisten Geburten seien heute planbar, sagt Fidler. Ultraschall, Vorsorge, Risikoscreening – dass eine Schwangere völlig überrascht wird, "zack, jetzt kommt das Baby", sei selten geworden. Sehr selten.

Und selbst wenn es schnell gehen muss: Kaum ein Land in Europa sei so gut erschlossen wie Österreich, sagt Fidler. Hubschrauber, Notärzte, Rettungssanitäter auf höchstem Niveau. "Im Notfall kann jeder Arzt, notfalls jeder Zahnarzt, noch eine Geburt begleiten."

"Es kann nicht beides sein"

In der Standortfrage hält sich Fidler bewusst heraus. Bregenz oder Dornbirn? Er sei da "agnostisch", sagt er, und betont das mehrfach. Welcher Standort besser sei, das hänge von Details ab – Infrastruktur, Kosten, Logistik. "Das muss man sich ausschnapsen." Aber eines, sagt Fidler, sei nicht verhandelbar: "Es kann nicht beides sein."

"Wir können uns alle zehn Finger abschlecken"

Das österreichische Gesundheitssystem sei im internationalen Vergleich "saugut", sagt Fidler. "Wir können uns alle zehn Finger abschlecken."

Also nur Meckern auf hohem Niveau? Fidler widerspricht – zumindest teilweise. Meckern würde er es nicht nennen, eher ein Informationsdefizit.

(VOL.AT)

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