Benzos: "900 Tabletten in drei Monaten trieben meinen Bruder in den Tod"
Es ist 9 Uhr an einem verregneten Vormittag in der Bregenzer Siedlung an der Ach. So trist wie das Wetter präsentiert sich auch der schon etwas in die Jahre gekommene Wohnblock, in dem Kerim S.* lebt. Grau in Grau reihen sich die Häuserzeilen aneinander, für farbliche Abwechslung sorgen vereinzelte Schmierereien an den Wänden, die der Bezeichnung eines Graffitis nicht würdig sind.
Karg und trostlos wie das Wetter zeigt sich an diesem Tag die gesamte "Siedlung". Die Verbindungspassagen sind menschenleer, zwei Katzen, die es sich auf den gepflasterten Wegen gemütlich gemacht haben, sind die einzigen Lebewesen, denen wir auf dem Weg zur Wohnung von Kerim S.* begegnen.

Die Sucht trieb ihn in den Tod
Der junge Bregenzer empfängt uns in seinem kleinen Appartement. Aufgrund der VOL.AT-Berichterstattung zum Thema "Benzodiazepine und Medikamentenmissbrauch" wandte sich der Bodenseestädter an die Redaktion. Denn was sich hinter den Türen vieler Wohnungen in dem Wohnkomplex abspielt, zeichnet ein erschreckendes Bild einer Generation, die mit ihren Problemen allein gelassen wird. Alkohol, Drogen und eben auch der Missbrauch von den angesprochenen Präparaten stehen an der Tagesordnung und fordern ihren Tribut. So auch beim Bruder von Kerim S.*, dessen Sucht ihn im Jahr 2021 in den Tod trieb. Der 38-Jährige wurde leblos in seiner Wohnung aufgefunden, ein toxikologisches Gutachten brachte dann traurige Gewissheit. Kerims* Bruder verstarb an einem tödlichen Drogencocktail. Sowohl Alkohol als auch Morphium waren im Spiel, den letalen Ausschlag gab aber eine ungewöhnlich hohe Konzentration an Clonazepam, ein Benzodiazepin, das handelsüblich als Rivotril verschrieben wird.

Seine Augen füllen sich mit Tränen
Während des Interviews müssen wir öfters unterbrechen, zu schwer fällt Kerim S.* die Aufarbeitung des Verlusts seines geliebten Bruders. Seine Stimme bricht und seine Augen füllen sich mit Tränen. Es sind aber auch Tränen der Wut, denn als sich der Bregenzer mit den genaueren Umständen rund um das Ableben seines geliebten Familienmitglieds beschäftigt, tun sich für Kerim* erschreckende Abgründe auf.
900 Tabletten in drei Monaten
"Mein Bruder war drogenabhängig. Deswegen wurde ich auch als Erwachsenenvertreter für ihn eingesetzt. Außerdem wurde bei ihm eine bipolare Störung diagnostiziert. Ich habe mein Bestes getan, um ihn wieder in die Spur zu bringen. Und ich habe auch auf seine Ärzte vertraut. Nach seinem Ableben stieß ich dann aber auf eine für mich nicht nachvollziehbare und ungewöhnlich hohe Menge an Medikamenten, die ihm von seiner Allgemeinärztin verschrieben wurden. Als Laie wusste ich nicht um die Gefahren von Benzodiazepinen, vor allem nicht im Zusammenspiel mit anderen Drogen. Zunächst erhielt mein Bruder eine nachvollziehbare Dosis an Rivotril. Kurz vor seiner Überdosis trieben meinen Bruder 900 Tabletten in knapp drei Monaten in den Tod. Davon bin ich überzeugt", führt Kerim* weiter aus.

Der ELGA-Auszug seines verstorbenen Bruders. Auffallend: Drei Monate vor seinem Tod verschrieb man ihm 900 Benzodiazepin-Tabletten.
Nachforschungen zeichnen
ein schockierendes Bild
Im Zuge seiner privaten Recherchen hat er mit den behandelten Ärzten und Psychiatern gesprochen. Für ihn steht die Frage im Raum, wer letztlich für das Ableben eine Mitverantwortung tragen könnte. Kerim* durchsucht seine Unterlagen. Nach wenigen Minuten findet er den Auszug aus der ELGA-Datenbank, welche die ungewöhnlich hohe Menge an Rivotril belegen, die sein Bruder auf Rezept bekam. Das bestätigt auch ein Arzt, der sich aber nicht konkret zum Fall äußern möchte, auf VOL.AT-Nachfrage: "Die Dosierung ist außergewöhnlich hoch. Benzodiazepine werden auch für gewöhnlich nach wenigen Wochen abgesetzt, da sie sehr schnell abhängig machen können. Die verordnete Menge hängt aber auch vom Patienten ab, da er eine Art Toleranz entwickeln kann."

Und eine Warnung von einer behandelnden Ärztin, die hinterfragt, wieso ihm trotz Kenntnis seiner Drogen- und Alkohol-Sucht diese Medikamente verschrieben wurden. Auch hegte sie die Befürchtung, dass er die verschriebenen Tabletten an seine Kollegen verkaufe.

Kerim* will auf die Gefahren dieser Präparate hinweisen
Inzwischen wird in dem Fall ermittelt, auch auf Zutun von Kerim*, der nicht lockerlässt: "Es geht mir nicht darum, ein Exempel zu statuieren. Und ich möchte auch kein Geld herausschlagen. Mir geht es darum, auf die Gefahren dieser Präparate hinzuweisen. Leichtfertiges Verschreiben zu verhindern. Und das Thema auf den Tisch zu bringen. Denn in meinem Umfeld in der Achsiedlung werde ich beinahe täglich mit 'Benzos' konfrontiert."

"Doppelte Dosis wird verschrieben, die Hälfte wird verdealt"
Kerim* steht auf. Er braucht frische Luft. Wir entscheiden uns, das Gespräch bei einem Spaziergang durch den Komplex fortzusetzen. Kerim* möchte mir auch einschlägige Plätze zeigen, wo sich auch Jugendliche treffen, um zu kiffen, aber auch um "Benzos zu droppen".

"Nach dem Tod meines Bruders war ich schockiert, wie einfach es offensichtlich vielen fällt, an diese Rezepte zu kommen. In der Szene tauschen sich die Konsumenten aus, z.B. darüber, wie man sich bei welchem Arzt zu verhalten hat, um an die Medikamente zu kommen. Der Sohn einer Bewohnerin der Siedlung verstarb vor wenigen Jahren ebenfalls an einer Misch-Intoxikation. Und ein paar Häuser weiter hat mir ein Bewohner ebenfalls bestätigt, wie leicht er an den Stoff kommt. Der Mann Mitte 20 würde eine doppelte Dosis verschrieben bekommen. Die Hälfte der Benzodiazepine konsumiert er selbst, den Rest verkauft er, auch hier in der Siedlung", erzählt Kerim* weiter.

Wir laufen entlang der Bregenzerach, vorbei am Kinderspielplatz. Hin zum Jugendtreff, wo wir einen jungen Mann sehen, der sich dort einen Joint dreht. Unsere Anwesenheit scheint ihn wenig zu stören, nach einer kurzen Begrüßung vonseiten Kerims* gehen wir aber weiter.

In einem Fahrradständer fristet ein Kinderrad sein trauriges Dasein und verrostet. Weiter am Weg steht ein altes, kaputtes Tret-Go-Kart. Es verfällt, niemand scheint sich darum zu kümmern. Genauso wenig wie um jene Menschen, die sich in der scheinbaren Sicherheit ihrer vier Wände dem Drogenkonsum hingeben. Denn für sie scheint kein Platz in einer Gesellschaft, in der Schwächen, Fehler und Scheitern nicht toleriert werden. (VOL.AT)

*Name von Redaktion verändert
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