AA

Flüchtlingsdrama auf der A4 erschüttert auch noch 10 Jahre später

Die Flüchtlinge waren in einem luftdicht verschlossenen Laderaum erstickt.
Die Flüchtlinge waren in einem luftdicht verschlossenen Laderaum erstickt. ©APA/ROLAND SCHLAGER (Archivbild)
Ein abgestellter Kühl-Lkw bei Parndorf offenbarte im August 2015 das Ausmaß einer menschlichen Tragödie: 71 Flüchtlinge erstickten hilflos im luftdicht verschlossenen Laderaum. Auch zehn Jahre nach dem Schockfund auf der A4 macht der Fall fassungslos.
25 Jahre Haft für Angeklagte
Schlepper vor Todesfahrt abgehört
Mehrere Festnahmen nach A4-Drama
Flüchtlinge in Kühl-Lkw erstickt

Am Höhepunkt der Flüchtlingsbewegung wurde das Burgenland 2015 zum Schauplatz einer Tragödie: Am 27. August entdeckte ein Mitarbeiter der Asfinag auf der Ostautobahn (A4) bei Parndorf einen etwa 7,5 Tonnen schweren Kühl-Lkw, der in einer Pannenbucht abgestellt war. Im luftdicht verschlossenen Laderaum befanden sich die Leichen von 71 Flüchtlingen, die während der Schlepperfahrt erstickt waren. Die vier Haupttäter wurden 2019 in Ungarn zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt.

71 Flüchtlinge in Lkw erstickt

Den Ermittlern, die den Lkw öffneten, bot sich ein grauenhaftes Bild. 71 Menschen aus Afghanistan, Syrien, dem Irak und dem Iran hatten auf engstem Raum um ihr Leben gekämpft. Beim Eintreffen der Polizei trat bereits Verwesungsflüssigkeit aus der Ladefläche. Später stellte sich heraus, dass die Flüchtlinge schon am Tag vor ihrem Auffinden auf ungarischem Staatsgebiet gestorben waren.

Es handelte sich um 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder, darunter drei Familien. Die burgenländische Justiz bezifferte den Zeithorizont, in dem die Flüchtlinge in dem Lastwagen hätten überleben können, mit nicht mehr als drei Stunden. Es dauerte Tage, die Leichen aus dem Schwerfahrzeug zu holen. Monate vergingen, bis sie identifiziert waren. Eine Person ist es bis heute nicht.

Prozess gegen 14 Angeklagte in Ungarn

Gerichtlich abgehandelt wurde der Sachverhalt in Ungarn, weil die Flüchtlinge mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schon dort ums Leben kamen. Deshalb übernahmen die ungarischen Behörden das Verfahren. Die Flüchtlinge waren von den Schleppern an der ungarisch-serbischen Grenze übernommen und in den Lastwagen gepfercht worden. Für das Verfahren war die Staatsanwaltschaft Kecskemét zuständig, weil der Lkw dort gestartet sein dürfte.

Die vier Hauptverdächtigen wurden im Juni 2018 zunächst zu jeweils 25 Jahren Haft verurteilt. Ein Jahr später wurden ihre Haftstrafen im Berufungsverfahren auf lebenslang erhöht. Zehn weitere Angeklagte erhielten Freiheitsstrafen zwischen vier und acht Jahren. Das Gericht betonte in der Urteilsbegründung, die Angeklagten seien sich darüber im Klaren gewesen, dass die Menschen im hermetisch abgeschlossenen Kühl-Lkw ersticken könnten. Sie wussten weiter, dass der Laderaum von innen nicht zu öffnen war. Der Tod der Flüchtlinge habe sich ereignet, da den Schleppern ihr eigenes Untertauchen wichtiger gewesen sei als das Leben der 71 Menschen.

Der Fall löste national wie international große Betroffenheit aus und hatte weitreichende politische Folgen. Nur wenige Tage nach dem Bekanntwerden des Dramas begann die große Flüchtlingswelle. Zehntausende hatten sich auf den Weg gemacht und reisten über den Balkan und Österreich weiter in Richtung Deutschland.

Gerichtsmediziner: "Wussten, dass sie sterben"

Die Gerichtsmedizin der MedUni Wien erhielt kurz nach dem Auffinden des Kühl-Lkw den Auftrag, die Obduktion der Leichen durchzuführen. "Die haben gewusst, dass sie sterben werden", erklärte Nikolaus Klupp, Leiter des Zentrums für Gerichtsmedizin der MedUni Wien, im APA-Gespräch.

An dem Tag Ende August herrschte Hitze bei 28 Grad, was den Verwesungsvorgang beschleunigt, gibt Klupp zu bedenken. Die toten Migranten wurden daher zunächst in die ehemalige Veterinärgrenzdienststelle in Nickelsdorf gebracht, später in einen Kühlraum der Bestattung Wien in Simmering und von dort aus jeweils sechs in die Gerichtsmedizin. "Am Ende des Tages stand fest: 71 Verstorbene, davon 59 Männer und acht Frauen. Vier waren Kinder, davon drei Buben und ein weiblicher Säugling."

Alle 71 Toten wurden obduziert, alle waren an Sauerstoffunterversorgung gestorben - sie sind im luftdicht abgeschlossenen Lastwagen erstickt. Dass sie sterben, war ihnen klar.

"Erinnerungen kann man nicht auslöschen"

"Ich mache den Job seit 32 Jahren. Das war das einschneidenste Erlebnis in dieser Zeit. Schon beim Entladen des Lkw konnten wir sagen, wer zu wem gehört. Das war schon belastend", erklärte Klupp. Die 71 Personen waren zusammengepfercht auf der Ladefläche, es sei aber erkennbar gewesen, dass es zusammengehörende Familien gab. "Das sind Erinnerungen, die man nicht auslöschen kann."

Von der Abfahrt bis zum Tod auf ungarischem Staatsgebiet war das Fahrzeug mit den Schleppern drei Stunden unterwegs. "Das war ein Todeskampf. Die haben gewusst, dass sie sterben werden." Im Lkw war nicht viel Platz, alle standen eng beieinander. "Sie haben versucht, die Tür aufzutreten. Der Kühlwagen hat aber eine dicke Außenhaut und ist luftdicht abgeschlossen." Bei Kindern setze der Erstickungstod früher ein als bei Erwachsenen: "Bei den Kindern haben das alle mitbekommen."

Aufwändige Arbeit zur Identifizierung

Drei Gerichtsmediziner, Obduktionsassistenten und die Tatortgruppen der Landeskriminalämter Wien, Niederösterreich und Burgenland arbeiteten "mehr oder weniger Tag und Nacht", bis am 2. September alle 71 Personen obduziert waren. Die Kooperation mit den Polizeibeamten habe sehr gut funktioniert, so Klupp. Während die Gerichtsmediziner mit den Leichen arbeiteten, waren sie etwa für die aufgefundenen Dokumente oder Mobiltelefone zuständig.

Bargeld wurde etwa in eingenähten Extrafächern in der Unterwäsche entdeckt und für Tätowierungen in arabischer Schrift wurde eine Sachverständige herbeigezogen, schildert Klupp die aufwändige Arbeit zur Identifizierung. Alle bis auf eine Person konnten schließlich aufgrund der DNA identifiziert werden. Während alle Toten etwa in ihre Herkunftsländer oder das von Angehörigen angegebene Land überstellt wurden, fand diese auf dem Wiener Zentralfriedhof die letzte Ruhestätte.

"Extrem belastende" Arbeit für Mediziner und Polizisten

"Das Schlimmste bei Identifikationen ist, wenn man etwas verwechselt oder etwas nicht mehr eindeutig zuordnen kann. Das hat hier wirklich professionell funktioniert", betonte Klupp. Es werden daher durchgängig gleiche Nummern für jeden Fall verwendet. An der Gerichtsmedizin in Wien - wo normalerweise jährlich 400 bis 500 Obduktionen stattfinden - werden seit dem Vorfall in Parndorf auch alle Obduktionsprotokolle DVI-konform erstellt. DVI steht für "Disaster Victim Identification" und sei bei Massenkatastrophen zentral. Alle Eckpunkte der Person werden dabei erfasst und digitalisiert, damit später eine Identifikation möglich ist.

Die Arbeit an dem Fall der 71 Toten war selbst für erfahrene Mediziner und Polizisten "extrem belastend", so Klupp. "Interne Kommunikation ist sehr wichtig." Die Gruppe habe intensiv als Team zusammengearbeitet und auch über das Erlebte gesprochen. "Man darf die Fälle nicht mit nach Hause nehmen. Wenn man anfängt, von Leichen zu träumen, ist man falsch im Beruf", stellte Klupp fest.

Kunstinstallation erinnert an die Opfer

Zum zehnten Jahrestag wird der 71 verstorbenen Flüchtlinge mit einer dauerhaften Kunstinstallation gedacht. Die "Memory Box 71" des Künstlers Michael Kos wird im Burggarten der Friedensburg Schlaining aufgestellt. Sie soll an die Männer, Frauen und Kinder erinnern, die auf ihrem Weg nach Mitteleuropa im Kühllaster starben.

(APA/Red)

  • VOL.AT
  • Österreich
  • Flüchtlingsdrama auf der A4 erschüttert auch noch 10 Jahre später