Vorarlberg: "Flüchtende wir alle"

Ein Roman voller dunkler Geräusche, voller Abgründe – Gerhard Jäger hat mit “All die Nacht über uns” ein Buch zur Flüchtlingsbewegung geschrieben, das nachdenklich macht. Die Geschichte weiß den Leser zu packen und beleuchtet das Thema Flucht aus allen Perspektiven. Auch wenn der Autor den Stift manchmal zu stark andrückt, sollte es gelesen werden, vielleicht sogar als Schullektüre.
Ausgehölte Begriffe
Ein namenloser Soldat muss an einer namenlosen Grenze in Erwartung herankommender Flüchtlinge eine lange, stürmische Nacht allein auf einem Wachturm hinter sich bringen. Alles ist anders geworden, die Sicherheitslage verschärft, “nachdem Begriffe und Dinge, auf die man sich jahrelang hatte verlassen können, auf die man ein Leben baute, Begriffe wie Heimat, Geborgenheit, Zukunft” ausgehöhlt scheinen. Er vertreibt sich die Zeit mit dem Tagebuch seiner Großmutter, die ihre Erlebnisse auf der Flucht aus Hinterpommern im Zweiten Weltkrieg schreibend bewältigte. Ihn beschäftigen aber auch der Verlust seiner eigenen Familie und die Ansiedelung von Flüchtlingen in seiner kleinen Heimatgemeinde.
Schießbefehl
Jeder Stunde Wache entspricht ein mit Uhrzeiten betiteltes Kapitel. Die Nacht in all ihren Schattierungen und mit ihren Geräuschen weckt Erinnerungen und Assoziationen beim Protagonisten, er ist auf sich selbst zurückgeworfen, schutzlos, kann seiner Vergangenheit nicht entkommen. “Vielleicht (…) sind wir alle nur ständig am Gehen, am Weggehen, weg von allem, was uns Angst macht und die fordernden Hände um uns legt, weg von unserer Vergangenheit, weg von unserem Leben, (…). Vielleicht sind wir alle ständig auf der Flucht, Flüchtende wir alle.” Das Buch pendelt zwischen dem Wachturm und den Erinnerungen. Zunehmend gerät der Soldat dabei in einen inneren Ausnahmezustand, er kommt buchstäblich an seine Grenzen. Unaufhaltsam steuert die Geschichte auf ihren Höhepunkt zu: Wird er, der Schießbefehl hat, auf die Menschen schießen, die kommen?
Seelisches Elend
In dem Buch rund um Fragen von Zugehörigkeit, Heimat, Verantwortung, Grenzen, Liebe und die Ohnmacht des Einzelnen entlädt sich “all die Nacht über uns”, also all das seelische Elend, die schmerzende Vergangenheit, die Ängste, letztlich über den geflüchteten Menschen. Der 1966 in Dornbirn geborene und in Imst lebende Gerhard Jäger widmet seinen Roman “all jenen, denen die Heimat nicht geblieben ist” sowie besonders der Tiroler Malerin Dietlinde Bonnlander, deren Fluchterinnerungen als jene der Großmutter, kursiv gedruckt, Teil des Romans sind.
Longlist
Die Naturphänomene, Wetterleuchten und Sturm, bilden den inneren Zustand des Protagonisten ab, das ist nicht neu, aber bei Jäger gelungen geschildert. Ein schöner Fingerzeig auf Platzhirsch- und Männlichkeitsgehabe ist auch das wiederkehrende Röhren der Hirsche. Jäger, der als Journalist, Lehrer und Behindertenbetreuer arbeitete, ließ mit seinem Debüt 2016, “Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod”, aufhorchen. Die Chancen, dass er mit “All die Nacht über uns” an seinen Erfolg anschließen kann, stehen gut. Auf die Longlist für den Österreichischen Buchpreis hat er es bereits verdienterweise geschafft.
(APA)
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