Für Verjüngungskuren gibt man in Hollywood gerne viel Geld aus. Doch die teure Anti-Aging-Aktion in "The Irishman" setzt in der Filmbranche in vieler Hinsicht neue Maßstäbe.
In dem jüngsten Mafia-Meisterwerk von Regisseur Martin Scorsese altern und verjüngen sich Stars wie Robert De Niro, Al Pacino und Joe Pesci über einen Zeitraum von 40 Jahren. Teure Digitaleffekte machten es möglich, doch die Drehkosten schossen auf über 160 Millionen Dollar hoch. In Hollywood munkelt man gar von 200 Millionen Dollar, die sich die Streamingplattform Netflix "The Irishman" hat kosten lassen.
Netflix statt Paramount Pictures
Martin Scorsese, der seine letzten Filme, darunter "Silence" und "The Wolf of Wall Street" mit Paramount Pictures herausbrachte, erhielt diesmal von dem Hollywood-Studio eine Abfuhr. "Wir mussten einen teuren Film machen", erklärte Scorsese im Oktober im Interview mit dem US-Branchenblatt "Variety" über seine Pläne für "The Irishman". "Das Filmgeschäft ändert sich von Stunde zu Stunde - nicht unbedingt zum Besseren - und viele Stellen, die wir früher um Geld gefragt hätten, waren nicht mehr praktikabel. Dann nahmen wir Gespräche mit Netflix auf", erzählte der Oscar-Preisträger.
3,5 Stunden Epos
Der Rest ist Geschichte. Scorsese brachte das dreieinhalbstündige Epos bei dem Streamingdienst unter, Kosten und Überlänge spielten offenbar keine Rolle. Eine Schockwelle ging durch Hollywood. Ein Cineast wie Scorsese, Verfechter des klassischen Kinos und großer Leinwände, wechselt zum Streamen? Ausgerechnet mit einem Film, der in brillanter Optik die epische Geschichte des Gangsters Frank "The Irishman" Sheeran (De Niro) erzählt, der im Auftrag der Mafia den Gewerkschaftsführer Jimmy Hoffa (Pacino) umgebracht haben soll.
Bei Netflix, das mit rund 12 Milliarden Dollar verschuldet ist, aber rund 160 Millionen Abonnenten weltweit zählt und einen Umsatz von rund 15 Milliarden erwirtschaftete, scheint man keine Angst vor der riesigen Investition gehabt zu haben. Angeblich hat Neflix jedes Jahr ein Content-Budget von rund 15 Milliarden Dollar. Und mit "The Irishman" verfolgt Netflix nämlich noch ein ganz anderes Ziel. Die Oscars.
Nur in ausgewählten Kinos
Vor dem Streamingstart bei Netflix an vergangenen Mittwoch (27. November) war "The Irishman" nur wenige Wochen in wenigen ausgewählten Kinos zu sehen. Die großen US-Kinoketten boykottierten den Film, die Betreiber fürchten um ihre Geschäfte. Sie verlangen eine deutlich längere, profitable Laufzeit, um einen Streifen in ihr Programm aufzunehmen. Darauf wollte sich der Streamingriese aber nicht einlassen.
12 Milliarden Dollar Schulden
Um bei den Oscars mitzumischen, müssen Filme jeweils vor dem Jahresende eine Woche lang in einem Kino im Raum Los Angeles gezeigt werden - diese Auflage hat Scorsese erfüllt, sagt der amerikanische Kino-Experte Jason Squire, Professor an der kalifornischen USC School of Cinematic Arts, der Deutschen Presse-Agentur. "Netflix hat ein riesiges Interesse, bei den Oscars Wirkung zu zeigen, ähnlich wie mit "Roma" im vorigen Jahr. Streamingdienste sind echte Rivalen der traditionellen Hollywood-Studios geworden", meint Squire.
Oscars: Top-Sparte "Bester Film"
Der Schwarz-Weiß-Film "Roma" des Mexikaners Alfonso Cuarón, von Netflix produziert, war im Februar mit zehn Nominierungen als Favorit ins Oscar-Rennen gezogen. Zum ersten Mal mischte eine Netflix-Eigenproduktion in der prestigeträchtigen Top-Sparte "Bester Film" mit. Am Ende holte "Roma" drei Trophäen, darunter für die beste Regie, nicht aber den Spitzenpreis.
Kampf um Abonnenten
"Netflix investiert Milliardenbeträge, um weltweit noch mehr Abonnenten zu gewinnen und um an Prestige zu gewinnen", sagt Squire. Die Strategie scheint aufzugehen. Nach Bekanntwerden des Deals mit Scorsese seien zahlreiche Filmemacher auf sie zugekommen, teilte Netflix-Manager Scott Stuber "Variety" mit. "Das ist eine große Umstellung, das erkennen wir an, aber wir wollen die besten Filmemacher unterstützen", betonte Stuber.
Hollywood-Stars bei Netflix & Co
Tatsächlich laufen Hollywood-Stars längst zu Netflix und anderen Streaminganbietern, wie Amazon, über. Jüngst sagten die Oscar-Preisträgerinnen Meryl Streep und Nicole Kidman für den geplanten Netflix-Film "The Prom" zu. George Clooney ist als Regisseur und Hauptdarsteller bei einem Netflix-Sci-Fi-Thriller an Bord, Will Ferrell und Pierce Brosnan drehen eine Eurovision-Komödie.
Gegenangriff der Studios
Die großen Studios gehen mit eigenen Streamingdiensten zum Angriff über. Der Unterhaltungsriese Walt Disney gab am 12. November den Startschuss für Disney+, um eigene Filme exklusiv im Netz anzubieten, darunter Produktionen der Pixar-Tochter, Marvel-Hits und "Star Wars"-Abenteuer. WarnerMedia will im kommenden Frühjahr mit HBO Max in das boomende Geschäft einsteigen. "Ocean's Eleven"-Regisseur Steven Soderbergh und Meryl Streep sind schon mit der Komödie "Let Them All Talk" an Bord. NBC Universal kündigt für 2020 den Streaming-Service Peacock an.
Hochwertige Streamingsproduktionen
Kino-Experte Squire begrüßt den Wandel in der Branche. Während die Kinoleinwände von Blockbustern und Fortsetzungen bestimmt werden, drängen gleichzeitig immer mehr hochwertige Streamingprodukte auf den Markt, erklärt der Herausgeber der Filmbibel "The Movie Business Book". "Die Kunden profitieren am Ende von einer viel größeren Auswahl."
Kurzformat im Jahr 2020
Das Scorsese-Epos "The Irishman" mit einer Länge von 209 Minuten ist das eine Extrem. Gegenstück ist das Kurzformat der geplanten US-Videoplattform Quibi, die für April 2020 in den Startlöchern steht. Es werden nur Filme oder Serienepisoden angeboten, die nicht mehr als zehn Minuten lang sind. Hinter Quibi stehen der Filmproduzent Jeffrey Katzenberg und die ehemalige Ebay- und HP-Chefin Meg Whitman.
Hochkarätige Stars
Auch dieses Format lockt bereits hochkarätige Stars an. Steven Spielberg, Guillermo del Toro und Jennifer Lopez haben Projekte zugesagt. Der zweifache Oscar-Preisträger Christoph Waltz ("Django Unchained") wird in einer noch titellosen Thriller-Serie mitspielen, wie im September bekannt wurde. "Man soll jede Art von Film auf jede Art und Weise sehen können, auf der Leinwand oder im Netz", meint Squire. "Dies sind historische Zeiten, in denen sich extrem viel bewegt." (dpa, VOL.AT)
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