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Sie soll beim Abnehmen helfen – doch Psychiater sieht ernste Gefahren

Die Abnehmspritze gilt als medizinischer Durchbruch – doch sie wirft viele Fragen auf. Psychiater Reinhard Haller warnt gegenüber VOL.AT vor neuem Schlankheitswahn, gesellschaftlichem Druck und klärt über die psychischen Nebenwirkungen auf.
"Wir bekommen täglich Anfragen"
"Abnehmspritzen" in Vorarlberg boomen, aber auch die Kosten sind hoch

Sie soll das Abnehmen revolutionieren – schnell, wirksam, unkompliziert. Die sogenannte Abnehmspritze erobert derzeit die Welt der Diäten im Sturm. Doch was macht das mit unserer Gesellschaft, mit unserem Selbstbild und unserer Psyche? Der renommierte Psychiater Reinhard Haller warnt im VOL.AT-Interview vor einem gefährlichen Trend – und erklärt, warum nicht jedes Kilo zu viel ein Problem ist, warum Genuss nicht zum Feind werden darf und weshalb die wahre Stärke im eigenen Instinkt liegt.

"Darf nicht zum Schlankheitswahn werden"

Für Univ.-Prof. Dr. Reinhard Haller steht fest: Die Diskussion um die sogenannte Abnehmspritze berührt einen zentralen Punkt unserer Zeit – den zunehmenden gesellschaftlichen Druck zur Selbstoptimierung. "Mit dieser Frage treffen Sie tatsächlich das Hauptproblem in der Abnehmdiskussion", so der forensische Psychiater im Gespräch mit VOL.AT. Gemeint ist die Frage, ob Medikamente zur Gewichtsreduktion nicht dazu führen, dass der Zwang, schlank zu sein, weiter steigt.

Video: Reinhard Haller im Interview

Haller erinnert daran, dass sich Schönheitsideale im Lauf der Geschichte immer wieder verändert haben. Doch heute werde oft ein Bild propagiert, das für viele schlicht nicht erreichbar sei – und es auch nicht sein sollte. "Wir dürfen den Stress des Schlankseins nicht überbewerten", warnt Haller.

"Es bleibt nicht erspart, sich mit dem eigenen Körpergewicht auseinanderzusetzen"

Die Abnehmspritze sei zweifellos ein medizinischer Fortschritt – insbesondere für Menschen mit krankhafter Adipositas, betont Haller. Für sie könne das Medikament ein echter Gewinn sein. Doch gleichzeitig mahnt er zur Vorsicht: Die Langzeitfolgen seien noch nicht absehbar. Und für Menschen ohne medizinische Notwendigkeit gelte: "Es bleibt nicht erspart, sich mit dem eigenen Körpergewicht auseinanderzusetzen." Sein Appell: nicht blind äußeren Normen folgen, sondern auf den eigenen Körper hören. "Wenn die Körperwahrnehmung stimmig ist, auch mit ein paar Kilo zu viel, dann ist das in Ordnung."

"Gesellschaftlicher Druck ist groß"

Viele Menschen sprechen nicht darüber, dass sie die Spritze nutzen – ein Tabu. Haller hält das für nachvollziehbar, denn: "Der gesellschaftliche Druck ist relativ groß." Noch immer sei Übergewicht stigmatisiert, obwohl wissenschaftlich belegt sei, dass leichtes Übergewicht sogar mit einer höheren Lebenserwartung einhergehen könne. Wer ein geringes Selbstwertgefühl hat, sei vom Druck besonders betroffen. Dabei gehe es letztlich um Selbstakzeptanz. Ein Satz einer älteren Berliner Dame sei Haller besonders in Erinnerung geblieben: "Ich bin ich." Eine gesunde Haltung, wie er findet.

Kostenübernahme für alle?

In der Debatte um die Kostenübernahme der Abnehmspritze durch die Krankenkassen spricht sich Haller für eine klare Trennung aus: Nur bei krankhafter Adipositas solle die Kasse einspringen – nicht aber bei Menschen, die einfach gerne essen. "Genuss-Übergewichtige", so nennt er sie, müssten selbst Verantwortung übernehmen. Die knappen Ressourcen der Kassen sollten denjenigen vorbehalten bleiben, die aus gesundheitlichen Gründen tatsächlich auf Hilfe angewiesen sind – etwa aufgrund eines nicht selbst verschuldeten Stoffwechseldefekts.

Essverhalten als Spiegel der Psyche

Das Essverhalten sei oft psychisch geprägt, sagt Haller. Besonders frühe Erfahrungen in der sogenannten oralen Phase könnten dazu führen, dass Menschen später übermäßig essen – als Ersatz für Nähe, Sicherheit oder Geborgenheit. Wenn Menschen sagen, sie könnten "nicht anders", sei das ernst zu nehmen. Hier helfe oft psychologische Therapie, um unbewusste Muster bewusst zu machen und zu verändern. Es braucht also nicht immer gleich medizinische Hilfe.

Gewichtsverlust kann depressiv machen

So sehr sich viele über verlorene Kilos freuen – für manche bedeutet ein starker Gewichtsverlust psychischen Stress. Es könne zu depressiven Reaktionen kommen, bis hin zu behandlungsbedürftiger Depression, warnt Haller. Studien aus der Zeit der Magenband-Operationen hätten gezeigt: Bis zu 30 Prozent der Patienten litten im Anschluss unter schweren depressiven Verstimmungen. Identitätsverlust, hormonelle Veränderungen oder Trauer über das "alte Ich" könnten Auslöser sein.

Gefahr des Missbrauchs: Kein Rausch, aber Abhängigkeit

Obwohl die Spritze keine Rauschzustände hervorrufe und somit kein klassisches Suchtpotenzial habe, sieht Haller dennoch ein Risiko: "Die Gefahr besteht, dass man sein gesamtes Verhalten – Essen, Bewegung, Lebensführung – von der Spritze abhängig macht." Diese psychische Abhängigkeit sei nicht zu unterschätzen. Gerade bei Menschen mit Essstörungen sei Vorsicht geboten.

Ärztliche Beratung notwendig

Letztlich plädiert Haller für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Abnehmspritze. Sie dürfe nicht dazu führen, dass man sich mit den Ursachen des Übergewichts nicht mehr auseinandersetzt. "Der Einsatz muss an eine medizinische Notwendigkeit und an die Mündigkeit des Patienten geknüpft sein." Es brauche ärztliche Beratung – nicht Selbstoptimierung um jeden Preis.

Schlankheitswahn: "Wir geraten in eine gefährliche Richtung"

Die Gefahr, dass die Spritze einen neuen Schlankheitswahn befeuert, sieht Haller klar: "Wenn Schlankheit übermäßig gefördert wird, geraten wir in eine gefährliche Richtung." Schon in der "Twiggy-Ära" hätten viele junge Frauen in Österreich an Magersucht gelitten – mit teils tödlichen Folgen. Darum sei es entscheidend, den medizinischen Nutzen nicht zu überhöhen, die Eigenverantwortung nicht aus der Hand zu geben – und vor allem: Körpervielfalt als Teil der menschlichen Individualität zu begreifen.

(VOL.AT)

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