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Offenbar stärker, als erwartet

Die Zeremonie seiner Abtweihe hatte noch einmal die ganze Pracht der mittelalterlichen Formensprache in der zisterziensisch-nüchternen Mehrerauer Klosterkirche entfaltet. Dieser 21. März 2009 war ein sonniger Tag.

Als der damals 38 Jahre alte Anselm van der Linde im goldenen Ornat mit Pontifikalhandschuhen, Bischofsstab und Mitra segnend durch die Menge schritt, glaubte man sich in eine andere Welt versetzt. Zurückhaltend wirkte er. Nobel und schüchtern. Der würde später keinen Fernsehpfarrer abgeben, das sah man gleich.

Beneidenswert?

Vielleicht haben ihn damals nicht wenige beneidet. Es war, auch wenn sich Kloster und Karriere nur denselben Anfangsbuchstaben teilen, ein beachtlicher Karriere-sprung. Abt der Mehrerau, das ist schon was. In wichtigen kirchlichen Fragen allein dem Papst unterstellt. Präses eines Zusammenschlusses von 24 Klöstern. Und zuhause in eben jener Mehrerau, die herrlich am Bodensee liegt, sich baulich beinah vollständig restauriert darbot, deren Landwirtschaft verpachtet, das Sanatorium saniert war und die Privatschule scheinbar florierte.

Mehrfache Schatten

Und heute? Bereut der profane Hendrik van der Linde manchmal, dass er seinerzeit eine diplomatische Laufbahn in den Wind schoss und zielstrebig nach Österreich ins Kloster ging? Der Glanz seiner Abtweihe wurde rasch mehrfach überschattet. In einem großanlegten Betrugsfall wurde die Mehrerau um 750.000 Euro geprellt. Anselm stellte die klösterliche Verwaltung auf neue Beine. Das Internat offenbarte zunehmend Mängel. Also regelte Anselm die Leitung neu und stieß einen Entwicklungsprozess an. Und nun die Fälle von Kindesmissbrauch, die aus der Geschichte des Internates bis heute unbewältigt ans Licht drängen. Als die Nachricht seiner Abtwahl damals drüben im Schultrakt der Mehrerau via SMS wie ein Lauffeuer verbreitet wurde, konnte man die Schüler über den Klosterhof jubeln hören. Sie mögen ihn.

Das bewiesen sie auch, als er an diesem Dienstag vor sie hintrat, um sie von den Missbrauchsfällen vergangener Jahre in Kenntnis zu setzen. Es war mit Sicherheit sein bislang schwerster Gang. Die Schüler applaudierten lange und herzlich. Der freundliche, stets etwas distanzierte junge Mann hat in wenigen Monaten erstaunlich Profil gewonnen. Und was vielleicht noch wichtiger ist: Er hat das zu keinem Zeitpunkt auf Kosten anderer getan. Der junge Abt verschweigt keine Verfehlung, aber er stellt auch niemanden an den Pranger.

Die Frage, warum die Mehrerau Fälle von Kindesmissbrauch früher nicht angezeigt hat, beantwortet er mit schlichten Sätzen: „Ich verstehe das selber nicht. Aus heutiger Sicht scheint uns das unverständlich. Dabei hätte es zu allen Zeiten unverständlich sein müssen.“ Er findet ungewohnt klare Worte für einen katholischen Bischof. Und mehr als einmal stand der junge Mehrerauer Abt gestern am Rand der Tränen.

Stark belastbar

Die vergangenen Tage haben ihn persönlich an die Grenze seiner Belastbarkeit geführt. Er hat seinen Weg unbeirrt beibehalten, wiewohl längst nicht alle seiner Begleiter das vorbehaltlos guthießen. Anlässlich seiner Weihe sagte Anselm van der Linde über die Anforderungen an den Christen von heute: „Wir müssen als Christen authentisch sein. Denn man kann den Menschen nichts vormachen.“ Das hat er ganz offenbar auch so gemeint.

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