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Koalitionsverhandlungen: Ohne Pflichtmitgliedschaft wackeln die Kollektivverträge

FPÖ und ÖVP führen derzeit intensive Koalitionsverhandlungen.
FPÖ und ÖVP führen derzeit intensive Koalitionsverhandlungen. ©AP (Sujet)
Nachdem FPÖ und NEOS das Ende der Pflichtmitgliedschaft der Kammern im Wahlkampf gefordert hatten und nun mit der ÖVP die nötige Verfassungsmehrheit besteht, ist diese im Vorfeld der schwarz-blauen Koalitionsverhandlungen wieder zum Thema geworden. Allerdings kämen mit Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft auf die Kollektivverträge unter Druck, bestätigt Thomas Leoni vom WIFO. Indes fordert Rechnungshof-Präsidentin Margit Kraker eine "Reformstrategie" von der neuen Bundesregierung.

Die Pflichtmitgliedschaft in der Arbeiter- und der Wirtschaftskammer ist gesetzlich geregelt und seit Jänner 2008 zusätzlich verfassungsrechtlich abgesichert. “Die Republik anerkennt die Rolle der Sozialpartner. Sie achtet deren Autonomie und fördert den sozialpartnerschaftlichen Dialog durch die Einrichtung von Selbstverwaltungskörpern”, heißt es im Artikel 120a.

Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft der Kammern wieder Thema

Dass alle Arbeitnehmer (mit Ausnahme der öffentlich Bediensteten) und alle Unternehmer den jeweiligen Kammern angehören müssen, ist im Arbeiterkammer- und im Wirtschaftskammergesetz geregelt. Die Wirtschaftskammer zählt 506.145 Mitglieder, der Großteil Einzelunternehmer. Sie zahlen nach Angaben der Kammer 541 Mio. Euro “Kammerumlage”. Die Arbeiterkammer beziffert die Einnahmen aus den Beiträgen ihrer 3,64 Mio. Mitglieder mit 432,6 Mio. Euro.

AK-Direktor Christoph Klein warnt nun davor, dass ein Ende der Pflichtmitgliedschaft in der Wirtschaftskammer auch die Kollektivverträge gefährden würde. Rolf Gleissner von der Abteilung Sozialpolitik der Wirtschaftskammer sieht das ähnlich. Er erklärt das damit, dass der Großteil der rund 500 Branchenverträge vom jeweiligen Fachverband für alle Mitgliedsunternehmen verhandelt wird. Wer der Wirtschaftskammer angehört, ist damit automatisch auch an den jeweiligen Kollektivvertrag gebunden. Dürften einzelne Unternehmen austreten, müssten sie auch den Kollektivvertrag nicht einhalten und könnten ihre Konkurrenten an der Lohnfront unterbieten. Damit sichere der Kollektivvertrag auch faire Wettbewerbsbedingungen für die Unternehmen, sagt Gleissner gegenüber der APA: “Der Wettbewerb nach unten soll nicht über die Löhne ausgetragen werden.”

Bei der Reichweite der Kollektivverträge liegt Österreich gemeinsam mit Frankreich im Spitzenfeld: Laut den jüngsten verfügbaren OECD-Zahlen erfassten die Kollektivverträge 2013 98 Prozent der Arbeitnehmer in den beiden Ländern. In Deutschland waren es zu Beginn der 1990er Jahre noch 85 Prozent – zuletzt waren es nur noch 58. Als wesentlichen Faktor für eine hohe Kollektivvertrags-Abdeckung wertet die OECD den hohen Organisationsgrad der Arbeitgeber-Vertretungen – weniger spielentscheidend ist demnach die Stärke der Gewerkschaften.

Darauf verweist auch Thomas Leoni vom Wirtschaftsforschungsinstitut. “Je höher der Organisationsgrad bei den Arbeitgebern ist, umso höher ist die Kollektivvertrags-Abdeckungsquote”, sagt Leoni gegenüber der APA. Dass die 98 Prozent ohne Pflichtmitgliedschaft in der Wirtschaftskammer zu halten wären, glaubt er nicht. Zwar sei unklar, in welchem Ausmaß und wie rasch die Kollektivverträge erodieren würden, aber: “Wenn die Pflichtmitgliedschaft aufgehoben wird, ist zu erwarten, dass die Kollektivvertrags-Abdeckungsquote über die Zeit sinken wird.”

Dass das derzeitige System alternativlos wäre, glaubt Leoni zwar nicht. Grundsätzlich könnten natürlich unterschiedliche Wege zum Erfolg führen. Für Österreich habe das Kollektivvertragssystem aber Vorteile gebracht, weil es als “Produktivitätspeitsche” für die Exportindustrie gewirkt habe. “Unternehmen, die besser da stehen, können sich mehr leisten. Die anderen kommen unter Druck und müssen produktiver werden, oder verschwinden vom Markt”, erklärt Leoni. Nicht umsonst lege die exportorientierte Metallindustrie bei den jährlichen KV-Verhandlungen die Messlatte für alle anderen Branchen. Wobei in schwierigen Jahren durchaus auch eine moderate Lohnentwicklung zu beobachten gewesen sei. Für eine kleine, offene Volkswirtschaft wie Österreich habe die “koordinierte Lohnfindung” daher bisher gut funktioniert.

Koalition: Rechnungshof-Chefin Kraker fordert “Reformstrategie”

Mit zehn Reformvorschlägen an die nächste Bundesregierung hat sich am Nationalfeiertag Rechnungshof-Präsidentin Margit Kraker zu Wort gemeldet. Sie fordert eine gemeinsame Strategie von Bund, Ländern und Gemeinden, um den seit dem EU-Beitritt angefallenen “Reformstau” zu beheben. “Ich bin überzeugt, dass sich die Bevölkerung jetzt Ergebnisse erwartet”, sagt Kraker im APA-Interview.

Unter dem Titel “Was jetzt getan werden muss” hat der Rechnungshof die aus seiner Sicht zehn wichtigsten Themen für die nächste Bundesregierung zusammengefasst. Zentral ist für Kraker die Schaffung einer koordinierten Reformstrategie. “Einzelmaßnahmen müssen in eine Gesamtstrategie hinein”, fordert die Rechnungshof-Präsidentin. Herausforderungen und Zukunftstrends sollen so rechtzeitig erkannt werden.

Darüber hinaus fordert der Rechnungshof Reformen in neun konkreten Punkten: Bildung, Gesundheit, Pflege, Pensionen, Förderungen, Digitalisierung, Schuldenabbau, Verwaltung und Demokratie. Kraker plädiert dafür, das aktuell starke Wirtschaftswachstum für Reformen zu nutzen. “Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs dürfen nicht dazu führen, dass die Anstrengungen nachlassen”, heißt es im Papier des Rechnungshofes.

Als zentrales Beispiel nennt Kraker die nach wie vor ungelöste Pflegefinanzierung. “Das entwickelt sich dynamischer als der Pensionsbereich”, verweist Kraker auf stark steigende Kosten – von 1,8 Prozent der Wirtschaftsleistung im Jahr 2015 auf bis zu 3,4 Prozent 2060. Kraker kritisiert, dass die Sozialversicherung zwar für Krankheit und Pensionen vorsorgt, nicht aber für die Altenpflege. Eine Pflegeversicherung wäre daher eine mögliche Lösung.

Im Pensionsbereich plädiert Kraker für eine Anhebung des tatsächlichen Antrittsalters, bei der Bildung dafür, dass die tatsächliche Unterrichtszeit in den Klassen verstärkt wird. Hier will Kraker u.a. über die schulautonomen Tage und den frühen Notenschluss im Juni reden. “Die Unterrichtszeit muss vom ersten bis zum letzten Schultag voll ausgenutzt werden”, heißt es im Papier des Rechnungshofs dazu.

Strukturreformen fordert der Rechnungshof auch bei den 21 Sozialversicherungsträgern, kritisiert wird auch die hohe Dichte an Spitalsbetten. Hier liegt Österreich mit 7,6 Betten pro 1.000 Einwohnern deutlich über dem EU-Schnitt (5,2 Krankenhausbetten). Mehr Transparenz fordert Kraker für politische Parteien – inklusive einer echten Prüfkompetenz des Rechnungshofs für Parteifinanzen, Sanktionen bei Verstößen und Einbeziehung von politischen Komitees und Vereinen.

Handlungsbedarf sieht Kraker sowohl bei Bund als auch Ländern. So müssten die Länder auf Kompetenzen verzichten (Stichwort einheitliche Mindestsicherung), der Bund müsse Doppelgleisigkeiten zwischen den einzelnen Ministerien abbauen (etwa die auf drei Ressorts verteilte Zuständigkeit für die Forschung).

Die Rechnungshof-Präsidentin kündigt an, die Fortschritte bei den zehn Themen in den nächsten Jahren immer wieder prüfen zu wollen. “Das sind zentrale Reformpunkte, da müssen Entscheidungen fallen”, fordert Kraker: “Wir werden auf diesen Themenbereichen immer wieder daraufbleiben.”

(APA/Red)

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