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Kassenreform laut VfGH nicht verfassungswidrig

Die Kassenreform hält vor dem VfGH.
Die Kassenreform hält vor dem VfGH. ©APA/HANS PUNZ
Im Gegensatz zum vom VfGH gekippten Sicherheitspaket hat sich die Reform der Sozialversicherung im wesentlichen gehalten.
VfGH kippt Sicherheitspaket

Die Reform der Sozialversicherung hat im wesentlichen vor dem Verfassungsgerichtshof gehalten. Sowohl die Strukturreform mit einer starken Reduktion der Träger als auch die paritätische Besetzung der Gremien zwischen Dienstgebern und Dienstnehmern wurden vom VfGH in einer am Freitag verkündeten Entscheidung für verfassungskonform befunden.

Kassenreform hält großteils vor VfGH

Verfassungswidrig ist hingegen die geplant gewesene Übertragung der Sozialversicherungsprüfung von den Kassen an die Finanz. Auch die Bestimmungen über den neuen Eignungstest für die Kassenfunktionäre wurden aufgehoben.

Die schriftliche Ausfertigung des hoch komplexen, in 15 Unterpunkte unterteilten Urteils ist gut 500 Seiten lang. Es soll den Parteien bis Jahresende zugestellt werden und dann auch veröffentlicht werden, gab Vizepräsident Christoph Grabenwarter, der das Gericht seit der Berufung von Präsidentin Brigitte Bierlein zur Bundeskanzlerin leitet, am Freitag in der öffentlichen Verkündung bekannt.

VfGH verweist auf Spielraum des Gesetzgebers

Dass die Zusammenlegung der neun Gebietskrankenkassen zur Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) nicht verfassungswidrig sei, begründete Grabenwarter mit dem rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Dieser benötige nicht in jedem Fall einen äußeren Anlass, um "eine wenn auch bewährte Organisationsform durch eine ihm günstiger scheinende zu ersetzen". Dass durch die Reform eine sparsame, wirtschaftliche und zweckmäßige Verwaltungsführung nicht mehr gewährleistet wäre, sieht der VfGH nicht zwangsläufig.

Ähnlich argumentiert der VfGH bezüglich der Änderung bei der Zusammensetzung der Sozialversicherungsorgane. Dass die Arbeitnehmer etwa in der ÖGK nur noch die Hälfte und nicht mehr vier Fünftel der Vertreter stellen, sieht er durch den "erheblichen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers" in dieser Frage gedeckt. Außerdem seien nach dem Konzept des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG) nicht nur Dienstnehmer, sondern auch Dienstgeber Angehörige der Sozialversicherung. Zusätzlich erinnerte der VfGH an sein ähnlich lautendes Erkenntnis aus dem Jahr 2003 zur Reform des Hauptverbands.

Eingriffe in Selbstverwaltung aufgehoben

Aufgehoben wurden neben Sozialversicherungsprüfung und Eignungstests auch einige Bestimmungen, mit der die staatliche Aufsicht bzw. das Sozialministerium in die Kassen eingreifen hätte können, etwa durch Verschiebung von Beschlüssen. Für die aufgehobene Übertragung der Sozialversicherungsprüfung an die Finanz wurde eine Reparaturfrist bis 1. Juli 2020 gesetzt, alles andere gilt ab sofort.

Bei den Eignungstest sah der VfGH Anforderungen aufgestellt, "die geeignet sind, eine Organbestellung nach demokratischen Grundsätzen zu unterlaufen". Dies auch deshalb, weil eine Prüfung über Inhalte weiter über den jeweiligen Sozialversicherungsträger hinaus und einer externen Prüfungskommission vorgesehen wurde.

Als nicht verfassungskonform erachtet der VfGH die neu installierten staatlichen Aufsichtsmöglichkeiten in der Sozialversicherung, denn die seien "praktisch auf die gesamte Gebarung der Sozialversicherung" erstreckt worden, was das Maß des Erforderlichen übersteige. Einen verfassungswidrigen Eingriff in die Satzungsautonomie sehen die Höchstrichter in den vorgegebenen Mustergeschäftsordnungen.

Ein "sachlich nicht gerechtfertigter und daher verfassungswidriger Eingriff in die Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger" ist laut VfGH auch die Befugnis der Aufsichtsbehörde, Beschlüsse der Sozialversicherungsorgane anlass- und begründungslos vertagen zu lassen. Ebenfalls nicht gültig ist die Vorgabe, dass sich die Sozialversicherungen den Zielsteuerungsvorgaben des Sozialministeriums unterwerfen müssen.

Aufgehoben wurden zudem einige Punkte bezüglich des Überleitungsausschusses, der für die Kassen bis zum Inkrafttreten der Reform mit 1. Jänner 2020 zuständig ist: Etwa dass dessen Vorsitzender der Gruppe der Dienstgeber anzugehören hat und dass er bestimmte Beschlüsse dem Sozialminister zur Entscheidung vorlegen kann.

Zur Übertragung des Sozialversicherungsprüfung an die Finanzbehörden heißt es: "Ein Regelungssystem, das einem im eigenen Wirkungsbereich entscheidenden Selbstverwaltungskörper praktisch jeden Einfluss auf Art und Umfang des Ermittlungsverfahrens nimmt, ist unsachlich und widerspricht den verfassungsrechtlichen Organisationsprinzipien der Selbstverwaltung."

Arbeitnehmer-Vertreter unzufrieden, Wirtschaft erfreut

Erwartungsgemäß sehr unterschiedlich sind die Reaktionen auf das VfGH-Erkenntnis zur Kassenreform ausgefallen. Während die Arbeitnehmer-Vertreter die Bestätigung der paritätischen Besetzung der Gremien zwischen Dienstgebern und Dienstnehmern durch den Verfassungsgerichtshof scharf kritisierten, zeigte sich die Wirtschaft zufrieden.

ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian bezeichnete die Entscheidung in diesem Punkt als "nicht verständlich und herben Rückschlag für 7,2 Millionen Versicherte". Zukünftig entscheiden Arbeitgeber zu 50 Prozent über die Leistungen der Versicherten, die ausschließlich Arbeitnehmer sind und das führe zu einer problematischen Situation. "Es liegt in der Natur der Sache, dass Arbeitgeber und die ÖGK-Versicherten unterschiedliche Interessen verfolgen. Während die eine Seite auf gute Geschäfte mit der Sozialversicherung hofft, geht es den Betroffenen vor allem um beste medizinische Versorgung", argumentiert Katzian den drohenden Konflikt durch die geänderten Mehrheitsverhältnisse.

Das gelte es nun auf politischer Ebene abzufangen, appelliert der ÖGB-Präsident an die Parlamentsklubs und an die Bundesregierung, rasch eine neue Grundlage zu schaffen. Die vor wenigen Tagen bekannt gewordenen Pläne zur Überprüfung der Krankenstände durch den Arbeitgeber unterstreichen diese Befürchtungen einmal mehr. Der ÖGB befürchtet darüber hinaus längere Wartezeiten, die Einführung von Selbstbehalten und die zunehmende Privatisierung des Gesundheitssystems, so Katzian.

"Wir bleiben dabei: Die neue Parität in der Sozialversicherung ist ungerecht", sagte auch AK Präsidentin Renate Anderl und verwies ebenfalls auf den Wunsch der Wirtschaft nach schärferen Kontrollen von Krankenständen. Anderl appellierte ebenfalls an die neue Regierung, "den Dialog mit uns zu suchen und die Gelegenheit zu nutzen, den 7,2 Millionen Versicherten die Verantwortung für ihre Versicherung wieder zurückzugeben."

Erfreut zeigten sich dagegen die Wirtschaftskammer und der ÖVP-Wirtschaftsbund. Die paritätische Besetzung der Leitungsgremien stelle "Fairness für die Arbeitgeber sicher, die in etwa die Hälfte der Beiträge zu Kranken-, Pensions- und Unfallversicherung leisten", meinten WKÖ-Generalsekretär Karlheinz Kopf und WB-Generalsekretär Kurt Egger.

"Neue Struktur schafft Potenziale"

Auch Matthias Krenn (FPÖ), Chef des Überleitungsausschusses und künftig ÖGK-Obmann, begrüßte das VfGH-Erkenntnis. "Die neue Struktur schafft Potenziale für verbesserte und neue Leistungen. Die Sozialversicherung bleibt ein Abbild gelebter sozialpartnerschaftlicher Zusammenarbeit."

Der Generaldirektor der Gesundheitskasse, Bernhard Wurzer, begrüßte "die Tatsache, dass nun Klarheit herrscht". Er kündigte bezüglich der vom VfGH aufgehobenen Übertragung der Sozialversicherungsprüfung von den Kassen an die Finanz an, dass man sich in den kommenden Wochen darauf fokussieren werde, die Rückabwicklung für alle Beitragsprüfer möglichst schonend und im Einklang mit dem Finanzministerium durchzuführen.

ÖVP und FPÖ applaudieren

ÖVP und FPÖ haben die Erkenntnisse des VfGH zu der in ihrer gemeinsamen Regierungszeit beschlossenen Kassenreform begrüßt. ÖVP-Klubobmann-Stellvertreter August Wöginger sah im Wesentlichen eine Bestätigung der Sozialversicherungsreform und "ein klares Bekenntnis zu einer modernen Selbstverwaltung".

"Das Urteil des Verfassungsgerichtshofes ist eine gute Entscheidung für unser Gesundheitssystem", kommentierte die freiheitliche Sozialsprecherin Dagmar Belakowitsch die Urteilsverkündung. "Mit diesem Entscheid kann die geplante Zusammenlegung der 21 Sozialversicherungsträger auf fünf endlich unbeschwert vonstattengehen. Warum allerdings die Fusion der Prüforgane verfassungswidrig sein soll, ist mir ein Rätsel", so Belakowitsch.

In seiner skeptischen Haltung bestätigt sah sich dagegen NEOS-Gesundheitssprecher Gerald Loacker. "Nur weil etwas nicht die Verfassung bricht, muss es nicht gute Politik sein. Die neue ÖGK versichert weiter nur einen Teil der Bevölkerung. Daneben genießen die öffentlich Bediensteten weiterhin Besserstellungen gegenüber den ÖGK-Versicherten", kritisierte Loacker einmal mehr die Privilegien für bestimmte Gruppen.

Mit Bedauern reagierte der SPÖ-Pensionistenverband auf die Zurückweisung der Klage des Seniorenrates. "Damit heißt es weiterhin: Pensionisten dürfen zwar zahlen, aber nicht mitbestimmen", kritisierte Pensionistenverbandspräsident Peter Kostelka und kündigte die Prüfung weiterer rechtlicher Schritte an.

VfGH-Erkenntnis laut Rendi-Wagner zu respektieren

Das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshof (VfGH) zur von Türkis-Blau beschlossenen Kassenreform ist aus SPÖ-Sicht zu respektieren. Jedoch sei nicht alles, "was verfassungsrechtlich möglich ist, auch zwangsläufig gut", betonte SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner bei einer Pressekonferenz am Freitag. Besonders stoßen sich die Roten an der paritätischen Besetzung der Gremien, der der VfGH einen Persilschein ausstellte.

Es sei "nicht gerecht", wenn die Dienstgeber über das Geld und die Leistungen der Dienstnehmer entscheiden können. Offensichtlich sei aber diese Verschlechterung für die Versicherungsnehmer verfassungsrechtlich möglich. Auch FSG-Vorsitzender Rainer Wimmer bezeichnete insbesondere diesen Punkt als "Wermutstropfen". Positiv sei hingegen, dass etwa die Übertragung der Sozialversicherungsprüfung und die Eignungstest für die Kassenfunktionäre aufgehoben wurden, so Wimmer. Daran könne man sehen, dass "auch die Bäume der alten Regierung nicht in den Himmel wachsen".

Verschärfungen als Warnsignal gewertet

Die jüngst bekannt gewordenen, geplanten Verschärfungen bei den Krankenständen werteten Rendi-Wagner und Wimmer als Warnsignal. Diese stellten einen "massiven Eingriff" in die Privatsphäre der Patienten dar. Krankheit sei keine Schuldfrage und könne jeden treffen, argumentierte Rendi-Wagner. Die jüngsten "Dementi" der Wirtschaftsvertreter bezeichnete die SPÖ-Chefin als "nicht glaubwürdig". Auch Wimmer beruhigt die Ankündigung des ÖAAB-Vertreters im ÖGK-Überleitungsausschuss, Martin Schaffenrath, gegen die Forderung der Wirtschaft stimmen zu wollen, keineswegs. Die schwarzen Arbeitnehmervertreter hätten bis dato immer den Weg für die Anliegen der Wirtschaft frei gemacht.

Laut Rendi-Wagner drohen aber nicht nur beim Krankenstand, sondern auch in anderen Bereichen Verschärfungen. Diesbezüglich verwies sie auf einen "Wunsch-Katalog" der Wirtschaftskammer, wonach etwa medizinische Einrichtungen privatisiert und Selbstbehalte eingeführt werden sollen. Wimmer ortete ein "System" dahinter. Zuerst wurde der 12-Stunden-Tag eingeführt, dann würden die Menschen, die dadurch krank werden, überwacht, so Wimmer: "Das ist eine Gutsherrenmentalität, die nicht mehr in die heutige Zeit passt."

Rendi-Wagner kündigte zudem eine parlamentarische Anfrage an Sozialministerin Brigitte Zarfl zur Leistungsharmonisierung in der Krankenversicherung an. Es sei viel versprochen worden, jetzt wolle man sehen, wie es darum stehe.

(APA/Red)

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