Gunstlage

Die bis zu 500 m aufsteigenden Berge im Norden und Osten bilden die windgeschützte „Bucht“; die um einige Meter aus dem Nebel der Rheinebene herausgehobenen flachen Schüttkegel die „Terrasse“; somit reichlich Sonnenlagen, Föhn, wasserreiche Böden am Grund, trockene am Hang – das ist die Gunst, die hier seit mehr als 2000 Jahren Wein gedeihen lässt. Und als ob das noch nicht reicht, kommen Heilquellen hinzu.
„Obstgarten Vorarlbergs“ wurde die Gegend genannt und der Reiseschriftsteller Josef Wichner begeisterte sich vor 100 Jahren für „Baumgärten und Rebengelände“. Dabei verbirgt sich hinter diesem Idyll bereits ein dramatischer Wandel: Hochstämme wurden damals gepflanzt, weil der Weinbau an Reblaus und Billigkonkurrenz litt, der Eisenbahn sei Dank. Neue Erwerbsmöglichkeiten in der aufkommenden Textilindustrie ergänzten sinkende Erträge, der durch Erbteilung zersplitterten Hofstellen. Der „Landflucht“ steht „Stadtflucht“ als Wasser- und Luftkur (die „staubfreie Luft“ wird gelobt) der gehobenen Stände gegenüber, „Welcome to Wellville“ auch hier. Die Gunst der Lage machte es möglich.
Bäuerliche und „urbane“ Kultur durchdringen sich, die Landwirtschaft verliert an Bedeutung, doch gewinnt auch wieder, ergänzt doch in der armen Zwischenkriegszeit eigener Acker und Vieh den Lebensunterhalt. Drastisch wird es erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Bauer verschwindet aus dem Dorf, bäuerlicher Nebenerwerb folgt, die Hochstämme weichen traktorengerechter Landwirtschaft, „unrentable“ Flächen werden aufgegeben – die Gunst des
Landes kehrt sich um: Die Hanglagen sind begehrte Grundstücke, in Röthis wird ein großer Weinberg in Bauparzellen umgewidmet. Das Land wächst zu – Haus an Haus, Gemeinde an Gemeinde, Gewerbegebiete, die verbleibenden Flächen sind Agrarindustrie oder Wald.
Die landwirtschaftliche, Gunstlage verkehrt sich zur Gunstlage „Wohnen auf dem Lande mit Alpenblick“ – doch was bleibt, wenn das Land sich auflöst? Oder zum Luxus wird: Einst war der Wein Lebensmittel und Exportgut, dann wurde er auf dem Altar der Rentabilität geopfert, heute ist er wieder da: als ein Genussmittel im oberen Preissegment. Wenn der Bürgermeister, Norbert Mähr, von der Entwicklung des Ortes spricht, meint man zu hören: da tut sich Ähnliches – Qualität ist gefragt. Nicht nur in einer Hinsicht. Qualität – das heißt: einen Unterschied machen. Unterscheiden heißt: Grenzen ziehen. An erster Stelle spricht der Bürgermeister also davon, den Siedlungsraum zu begrenzen, die Ränder deutlich zu machen – mit einem Bebauungsplan ab 1980, immer wieder aktualisiert, zuletzt in der Fassung von 2010. Da werden Maß und Art der Nutzung benannt, Widmungskategorien festgelegt. Gestalterische Festlegungen treten zugunsten von Beratungen zurück; die prominente Besetzung des Gestaltungsbeirats unterstreicht das.
Von den Rändern ins Zentrum: Die rückwärtigen Bereiche sollen zu einem grünen Netz von verkehrsfreien Wegen und Begegnungsorten verknüpft werden – mit Kirche und Schule in der Mitte. Erhalt und Pflege des „dörflichen“ Grüns ist als besondere Qualität erkannt: Entsprechend ernst wird der Schutz der hochstämmigen Obstbäume, der Erhalt der Weinbergmauern genommen. Besondere Aufmerksamkeit wird den alten Bauten entgegengebracht – ein jedes mit eigener Geschichte, die das Gesicht des Dorfes ergeben. Eines, das freilich nicht starr und versteinert ist und sich über einen Kamm scheren ließe. Dazu hat der Ort zu viel erlebt und lebt weiter. Die Betonung liegt auf dem einzelnen Bau von je eigener Qualität – auffallend die Neigung zum geschlossenen Kubus, der kleinbäuerlichen Siedlungsstruktur durchaus angemessen. Das kann ein Herrschersitz wie das „Schlösschen“ genauso sein wie ein Funktionsbau, etwa ein Torkel, die Wein-Presse. Wie beim Wein: auf die Lage, den Jahrgang, den Ausbau kommt es an. Und so sind zu den Bauten des Dorfes in den letzten Jahren solche hinzugekommen, die dem Wandel des Ortes folgen und teilhaben lassen an der international anerkannten Vorarlberger Baukunst.
Sozialzentrum „Vorderlandhus“ in der Ortsmitte, begonnen 1984 von Leopold Kaufmann oder die Wohnanlage von Gunter Wratzfeld ab 1993 – Beispiele aus dem strukturalistischen Geist jener frühen Jahre, bei Leopold Kaufmann ein Bekenntnis zum hiesigen Holzbau. 2002 macht das Bürogebäude von Reinhard Drexel auf sich aufmerksam, ein Betonskelett, das sich mit deutlicher Fuge und Hightech Alu-Holzfassade vom historischen Sockel abhebt. 2006 folgt die Erweiterung des Vorderlandhus durch Nägele Waibel, im selben Jahr die Verwandlung eines Stadels in ein Atelier durch architektur.terminal – Bauten, die technische Potenziale ausloten. Mit dem Musikpavillon von Cukrowicz Nachbaur aus dem Jahr 2010 ist herausragend die neue Variation Vorarlberger Baukunst vertreten – mit abstrakter Konzentration in Maß, Proportion und Material werden Bezüge zum Umfeld gesucht.
Da knüpfen architektur.terminal, Dieter Klammer und Martin Hackl, mit dem neuen Kindergarten aus dem Jahr 2011 an. Unterhalb der Volksschule gelegen, gibt diese Komposition aus zwei präzisen Volumen Blick und Raum frei in die neue, grüne Mitte des Ortes und gliedert sich mit seinen fünf Fassaden aus Weißtanne – das Dach ist einsehbar – in dieses Umfeld ein. Die drei Gruppenräume öffnen sich geborgen zum parkartigen Obstgarten, während Flur und Treppenhaus den Blick zum öffentlichen Weg und zur Schule öffnen – Sichtbeziehungen allenthalben, wohlbedacht. Dachterrasse, Bewegungsraum und Foyer mit kleiner Mensa ergänzen das Programm. Warmtonig und robust, Tanne und Rüster innen, sonnig und unbeschwert die Wiese unter Obstbäumen draußen – Kindheit auf dem Dorf, im Wandel
und doch traumhaft wie eh und je.
Daten & Fakten
Gemeinde Röthis: 1892 Einwohner (2011), Bezirk Feldkirch
Kindergarten Röthis 2011
Bauherr: Gemeinde Röthis
Architekt: architektur.terminal
Dieter Klammer und Martin Hackl, Röthis
Wettbewerb: 2008
Baufertigstellung: 2011
Nutzfläche: 770 m²
Geschoßfläche: 880 m²
Umbauter Raum: 3650 m³
Kosten: ca. 2 Mio. €
Konstruktion: Vorgefertigter Holzbau
Annähernd Passivhausstandard
Musikhaus Röthis 2010
Bauherr: Gemeinde Röthis
Architekt: Cukrowicz Nachbaur, Bregenz
Gasthaus Rebstein und Atelierhaus Walgaustraße
mit Gasthaus (Rebstein) 2007
Bauherr: Dr. Hatto Frick
Architekt: architektur.terminal
Dieter Klammer und Martin Hackl, Röthis
Sozialzentrum Vorderlandhus 2006
Bauherr: Lebensraum Vorderland
Architekten: Leopold Kaufmann, Bezau
(1984), Nägele Waibel, Dornbirn (2006)
Bürohaus Frick & Frick und Petershaus (Vinothek Stöger) 2001
Bauherr: Frick & Frick Wirtschaftstreuhand- und Steuerberatung
Architekt: Reinhard Drexel, Hohenems
Wohnanlage Pfründeweg 1995
Bauherr: Wohnbauselbsthilfe
Architekt: Gunter Wratzfeld, Bregenz
(Leben & Wohnen/ Florian Aicher)
Für den Inhalt verantwortlich:
vai Vorarlberger Architektur Institut
Kommenden Freitag:
Architektur vorORT 87 – 23|03|2012
Kindergarten, Röthis, Schulgasse 20, Treff punkt: 17 Uhr
Die vai-Veranstaltungsreihe Architektur vorORT bietet die Gelegenheit das Gebäude selbst zu erfahren, unterlegt mit Informationen durch Bauherr, Nutzer und Architekt.
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