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"Glück ist nur eine 6, keine 10"

Krieg, Krise, Pandemie – was macht das mit den Menschen? Und wie kann man dafür sorgen, nicht daran zu verzweifeln? W&W sprach mit dem Glücks-Experten Bertram Strolz über Positivität, Freude – und warum es nicht immer das obere Ende der Skala sein muss.

WANN & WO: Sie sind seit über 30 Jahren als Pädagoge und Psychotherapeut tätig, haben 16 Jahre lang als solcher beim Institut für Sozialdienste (ifs) gearbeitet und 2017 schließlich die Akademie für Positive Psychologie gegründet. Wie positiv waren sie heute Morgen gestimmt, als der Wecker klingelte?

Bertram Strolz: Heute gut – ich habe gut geschlafen, war ausgeruht und schon voller Vorfreude auf das Interview. (lacht) Aber natürlich gibt es auch bei mir verstimmte Tage. Da bin ich ehrlich.

WANN & WO: Da setzt die Positive Psychologie an. Können Sie kurz erklären, was sich hinter diesem Begriff verbirgt?

Bertram Strolz: Die Positive Psychologie ist ein Forschungsgebiet, das sich vor etwa 20 Jahren herausgebildet hat. Bis dahin fokussierte sich die Psychologieforschung auf Störungen, Leidenszustände und Erkankungen sowie darauf, diese zu heilen. Waren diese erst einmal geheilt, so endete die Forschung. Die Wissenschaft wusste nicht das kleinste Bisschen darüber, was gemeint ist, wenn ein Mensch sagt: Es geht mir gut. Was das bedeutet, was dahinter steht, was da abläuft, war bis dahin völlig unerforscht. Das herauszufinden – und natürlich auch für das Wohlergehen der Menschen zu nutzen – ist die Aufgabe der Positiven Psychologie. Und die ist wahnsinnig spannend.

WANN & WO: Wissen wir denn nicht von alleine, was uns gut tut, wie es uns gut geht?

Bertram Strolz: Im Prinzip ja, aber in unserer Wohlstandsgesellschaft wenden wir das zunehmend zu wenig an. In den letzten Jahrzehnten haben wir uns psychisch nicht so gut „ernährt“: immer mehr, immer höher, immer weiter … Könnte man von der Psyche ein Blutbild machen, so hätten wir darauf jede Menge schlechter Werte. Und das spüren wir.

Bertram Strolz, Fotos: CSP

WANN & WO: Praktisch wie uns gutgestellten Mitteleuropäern bei Reisen in ärmere Länder auffällt, wie glücklich die Menschen dort mit weniger sind?

Bertram Strolz: Absolut. In Afrika gibt es die Diagnose Depression gar nicht. Diese Krankheit existiert dort nicht. Seit einigen Jahren ist die Technik soweit, dass wir das Gehirn komplett erforschen können, dass wir die Ströme dieses unglaublichen Organs messen können. Und das zeigt ganz deutlich: Wir sind so gebaut, dass wir nach dem Guten streben. Und das auch erreichen, wenn wir uns nicht durch unsere Gesellschaft selbst Steine in den Weg legen.

WANN & WO: Tatsächlich scheinen immer mehr Menschen von der Weltlage erdrückt: Ukraine-Krieg, Inflationskrise, die Pandemie … Was ist da noch „normal“ und wo wird es kritisch?

Bertram Strolz: „Normal“ oder auch eine passende Reaktion auf diese Fakten ist es, in Sorge zu sein. Auch Angst zu haben. Beides sind menschliche Reaktionen, die uns schließlich schützen. Wichtig ist nur, wie man darauf reagiert. Gibt man sich der Angst vollkommen hin und treibt man in dieser Gedankenspirale abwärts, endet das schließlich in einer Depression. Bei Angst aber Schutz zu suchen und sich gegenseitig zu helfen, dreht die Spirale nach oben.

WANN & WO: Haben wir es angesichts unserer Wohlstandsgesellschaft verlernt, mit Schwierigkeiten umzugehen?

Bertram Strolz: In der Tat. Die vergangenen Jahrzehnte ging es für uns hier in Österreich, in Mitteleuropa nur aufwärts. Wir waren in einem absoluten Luxus-Zeitalter. Doch jetzt wackelt diese Komfort-Position. Und diesen „psychischen Muskel“ – sprich Durchhaltevermögen, Zuversicht –, den wir so lange nicht gebraucht haben, müssen wir jetzt erst wieder trainieren.

WANN & WO: Und wie?

Bertram Strolz: Indem wir Hoffnung üben. Wenn wir Hoffnung haben, haben wir auch Zuversicht. Die zwei stärksten Hoffnungsquellen sind Erleben in der Natur und Gemeinschaft – der Mensch ist nicht darauf ausgelegt, Einzelkämpfer zu sein. Darauf ist unser System nicht ausgelegt – auch wenn wir das zuletzt oft ignoriert haben.

"Viele Jugendliche sagen mir, dass sie TikTok wieder gelöscht haben"

WANN & WO: Sind die psychischen Belastungen in der Gesellschaft also tatsächlich gewachsen, ist es nicht nur eine verzerrte Wahrnehmung, weil mehr darüber berichtet wird?

Bertram Strolz: Ich glaube schon den Zahlen, die sagen, dass sich gewissen Themen häufen. Ich erlebe aber in meiner Praxis, dass man mit relativ wenig Aufwand vielen Menschen relativ schnell wieder zur Normalität verhelfen kann. Viele fühlen sich gerade erschöpft, da spricht man schnell von einer Depression. Das ist aber ein großes Wort. Ich glaube, dass in den explodierenden Zahlen von Depressionen ein großer Teil enthalten ist, der eigentlich mit einer Erschöpfung diagnostiziert werden sollte. Darauf müssen die Sozialsysteme jetzt reagieren. Wir haben gerade ein Netzwerk gegründet, das sicherstellen soll, dass jemand in psychischer Not innerhalb einer Woche einen Termin bekommt. Es muss nicht gleich eine zwei Jahre lange Psychoanalyse daraus folgen – oft genügen regelmäßige Gespräche über drei, vier Monate. So bleibt auch Raum für mehr Patienten.

WANN & WO: Gerade von der Psyche der Jugend wurde zuletzt ein düsteres Bild gezeichnet: Viele seien geradezu traumatisiert und hoffnungslos. Teilen Sie diese Ansicht?

Bertram Strolz: Die Jugendlichen sind auch müde, ja. Ich möchte nicht bagatellisieren, es gibt auch unter ihnen ganz extreme Reaktionen auf diese Zeit. Aber das ist nicht die Mehrheit. Es gibt ganz viele, die gerade jetzt etwas tun, die anpacken wollen. In den Schlagzeilen sind aber vor allem die, denen es schlecht geht. Das kann eine gefährliche Abwärtsspirale auslösen.

WANN & WO: Wie setzt die Positive Psychologie da an?

Bertram Strolz: In meiner Praxis bekommt jeder Patient die Aufgabe, morgens eine Sache zu formulieren, auf die er sich an diesem Tag freut. Und wenn es nur der Kaffee beim Frühstück ist. Am Abend dann soll er drei Dinge vom Tag notieren: Was war gut, wieso war es gut und was war mein Beitrag daran? Wir wissen aus der Hirnforschung, dass schon solche Übungen helfen.

WANN & WO: Auch wenn immer mehr über psychische Leiden berichtet wird: Ist der Gang zum Therapeuten immer noch ein Tabuthema und ein Schritt, der viel zu spät gemacht wird?

Bertram Strolz: Zu mir kommen Menschen, die mit ihrem Leiden bereits alles probiert haben, bei unzähligen Ärzten waren. Wenn sie dann von ihrem Doktor hierher geschickt werden, haben sie das Gefühl, sie sind ganz am Ende angekommen und hoffnungslose Fälle. Doch wenn ich ihnen dann erkläre, wie die Psyche mit dem Körper zusammenhängt, wie Bewegung der Psyche hilft, sind sie überwältigt. Jeder meiner Patienten muss mindestens drei bis fünf Stunden in der Woche in der Natur laufen. Und das bringt erwiesenermaßen 60 Prozent mehr Wohlbefinden.

WANN & WO: Wenn wir also im Job eh schon den halben Tag vor Bildschirmen sitzen, sollten wir den Feierabend nicht auch noch vor
diesen verbringen?

Bertram Strolz: Definitiv. Man kann das Hirn wie einen Muskel betrachten: Es braucht An- und Entspannung. Weitere Reize in Form von TV und Handy sind aber keine Entspannung. Da braucht es die Disziplin, die Schuhe zu schnüren und eine halbe Stunde in der Natur laufen zu gehen oder auch einmal gar nichts zu tun – etwas, was auch viele verlernt haben. Wobei ich auch da guter Dinge bin: Viele Jugendliche, mit denen ich etwa im Rahmen der Hoffnungswerktstätten zusammenarbeite, sagen mir, dass sie TikTok wieder gelöscht haben, weil es ihnen zu viel wird. Man darf die Jugend nicht unterschätzen, sie kann ganz selbstverständlich auf gesunde Weise mit diesen neuen Medien umgehen.

WANN & WO: Positive Psychologie ist also unerlässlich für einen gesunden Geist. Gibt es umgekehrt aber auch ein Zuviel – Stichwort „toxische Positivität“?

Bertram Strolz: Das gibt es. Wenn man sich eine Skala von 0 bis 10 vorstellt, dann liegt Glück in meinen Augen zwischen 5 und 8. Man ist auch mal bei der 10: fantastische Erlebnisse, Orgasmen, große Erfolge. Aber bei der 10 kann man nicht dauerhaft bleiben – das wäre Manie oder Sucht. Und es gibt für sie auch den richtigen Zeitpunkt. Wenn jemand gerade eine schwere Zeit durchmacht, wenn er um einen geliebten Menschen trauert, dann hilft es ihm nicht, wenn ich sage: Kopf hoch, das wird schon wieder. Positive Psychologie heißt, auch das Negative erkennen und zulassen, damit es wieder gutgehen kann.

Zur Person: Bertram Strolz

Geburtstag, Alter, Wohnort: 30. April 1964, 58 Jahre, Satteins
Familienstand: verheiratet, vier Kinder, fünf Enkel
Karriere: Sozialpädagoge beim ifs im Bereich Behindertenarbeit, dabei Leitung einer Wohngemeinschaft für geistig behinderte Menschen; später Patientenanwalt in der Psychiatrie; Organisation des Festivals „Künstler gegen Fremdenhass“; Leitung der ifs Familienarbeit; psychotherapeutische Weiterbildung, Gründung der Akademie für Positive Psychologie 2017

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(WANN & WO)

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