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Die vergessene Hälfte der Fruchtbarkeit

Spermien auf dem Weg zur Eizelle: Ihre Anzahl, Beweglichkeit und genetische Integrität sind entscheidend für die männliche Fruchtbarkeit.
Spermien auf dem Weg zur Eizelle: Ihre Anzahl, Beweglichkeit und genetische Integrität sind entscheidend für die männliche Fruchtbarkeit. ©Symbolfoto: Fluid Design via Canva Pro
Über Jahrzehnte wurde über sie kaum gesprochen. Jetzt zeigen Studien: Die Fruchtbarkeit von Männern nimmt weltweit dramatisch ab. Die Ursachen liegen nicht nur in der Umwelt – sondern im Alltag.

Am Anfang war die Bewegung

In medizinischen Fachkreisen wird die Entwicklung seit Jahren diskutiert, in der Öffentlichkeit hingegen kaum beachtet: Die männliche Fruchtbarkeit ist weltweit rückläufig. Studien zeigen, dass sich sowohl die Anzahl als auch die Beweglichkeit von Spermien seit den 1970er-Jahren mehr als halbiert haben. Auch aus dem Kinderwunschzentrum des LKH Feldkirch kommt eine deutliche Einschätzung: Einschränkungen in der Beweglichkeit von Spermien treten laut der klinischen Embryologin Julia Zimmermann mittlerweile häufig selbst bei jungen Männern auf.

Die Ursachen sind vielfältig – von genetischen Faktoren über chronische Erkrankungen bis hin zu äußeren Einflüssen wie Ernährung, Umwelt und psychischem Stress. Besonders Letztere gelten als beeinflussbar. "In den meisten Fällen ist ein ungesunder Lebensstil ausschlaggebend", wird Zimmermann in einer Aussendung des LKH Feldkirch zitiert. Für eine messbare Verbesserung sei jedoch Disziplin gefragt: Die Spermatogenese, also die Neubildung von Spermien, dauere etwa drei Monate.

Körper, Umwelt, Lebensstil

Die Ursachen für die rückläufige Fruchtbarkeit sind komplex. Genetische Dispositionen spielen ebenso eine Rolle wie chronische Erkrankungen. Doch vor allem der Lebensstil vieler Männer trägt zur Verschlechterung bei. Rauchen, Alkohol, Übergewicht, psychischer Druck – es sind bekannte Faktoren, deren Auswirkungen auf die allgemeine Gesundheit gut dokumentiert sind. Doch dass sie auch die Spermatogenese, also die Neubildung von Spermien, beeinträchtigen, rückt erst jetzt stärker in den Fokus.

Einblick aus der Gynäkologie am LKH Feldkirch

„Unser Kinderwunschzentrum ist ein wichtiger Pfeiler der Abteilung für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Täglich können wir in der Praxis die Synergien verschiedenster Expertisen für unsere Patientinnen mit Kinderwunsch nutzen. Die Ergebnisse unseres Kinderwunschzentrums liegen im nationalen Vergleich konstant an der Spitze. Das macht uns nicht nur stolz, sondern ermöglicht uns, unseren Patientinnen ein breites, qualitativ hochwertiges Angebot in ihrer Familienplanung zu bieten.“

– Prim. DDr. Burghard Abendstein, Leiter der Abteilung Gynäkologie am LKH Feldkirch

"Die Bildung gesunder Samenzellen dauert rund drei Monate", erklärt Zimmermann. "Veränderungen lassen sich frühestens nach dieser Zeitspanne feststellen – vorausgesetzt, es wurde konsequent am Lebensstil gearbeitet." Ein Verzicht auf Zigaretten etwa kann die Rate genetisch geschädigter Spermien deutlich senken. Tabakrauch enthält Schwermetalle und andere Substanzen, die oxidativen Stress auslösen und das Erbgut der Keimzellen angreifen – mit potenziellen Folgen für Fehlgeburten und Missbildungen.

Hormonelles Gleichgewicht

Auch Alkohol und ein erhöhter Body-Mass-Index (BMI) haben weitreichende hormonelle Konsequenzen. Alkohol beeinflusst die hormonellen Steuerzentren im Gehirn, Übergewicht fördert die Umwandlung von Testosteron in Östrogen. "Das kann nicht nur die Fruchtbarkeit senken, sondern auch zu chronischen Entzündungsprozessen führen", so die Fachleute des Feldkircher Zentrums. Hinzu kommt: Bewegungsmangel verstärkt die Effekte – und zu viel Bewegung, etwa im Leistungssport, kann sie paradoxerweise ebenso verstärken.

Es ist also ein schmaler Grat, auf dem Männer wandeln, wenn es um ihre Fortpflanzungsfähigkeit geht. Und doch lässt sich mit einfachen Mitteln viel erreichen: moderate Bewegung, gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf und bewusster Umgang mit Stress.

Statement aus dem Kinderwunschzentrum Feldkirch

„Als ärztlicher Leiter des Kinderwunschzentrum Feldkirch stehen mein Team und ich unseren Patienten mit umfassender Beratung und individuellen Lösungen zur Seite, um die bestmöglichen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Schwangerschaft zu schaffen.“

– Dr. Norbert Loacker, Oberarzt und Leiter des Kinderwunschzentrums am LKH Feldkirch

Zwischen Handy, Fast Food und Hitze

Die Spermien eines Mannes reagieren empfindlich – nicht nur auf das Offensichtliche, sondern auch auf das Alltägliche. Weichmacher in Verpackungen, Pestizide in Lebensmitteln, Hitzeeinwirkung durch Laptops oder Sitzheizungen – all das kann die Spermienproduktion stören. Selbst Smartphones gelten mittlerweile als mögliche Risikofaktoren, wenn sie dauerhaft in Körpernähe getragen werden.

Und auch die psychische Verfassung spielt eine zentrale Rolle: Schlafmangel, Dauerstress, mangelnde Erholung wirken sich hormonell auf die Fruchtbarkeit aus. Cortisol – das zentrale Stresshormon – hemmt nachweislich die Spermatogenese.

Zimmermann bringt es auf den Punkt: "Fruchtbarkeit beginnt nicht im Kinderwunschzentrum. Sie beginnt in den Routinen des Alltags – in jeder Entscheidung, die Männer für oder gegen ihre Gesundheit treffen."

Stimme aus der Urologie am LKH Feldkirch

„Ich freue mich über die seit Jahren gute Zusammenarbeit mit unserem Kinderwunschzentrum, das unseren zum Teil gemeinsamen Patienten auf höchst professioneller Weise Hilfe anbietet und deren Ergebnisse im nationalen Vergleich an der Top-Spitze stehen.“

– Prim. Univ.-Doz. Dr. Hobisch, Leiter der Abteilung Urologie am LKH Feldkirch

Die Mythen und die Wirklichkeit

Die öffentliche Debatte über männliche Fruchtbarkeit ist jung. Sie ist durchzogen von Halbwissen und biologistischen Klischees. So halten sich Mythen hartnäckig: Sojaprodukte würden Spermien schädigen, enge Unterhosen unfruchtbar machen oder häufiger Samenerguss die Qualität senken. Die Datenlage spricht dagegen – teils deutlich.

Regelmäßige Ejakulationen verbessern die Spermienqualität, Soja in moderaten Mengen hat keinen negativen Effekt, und Wärmebelastung ist nur dann problematisch, wenn sie dauerhaft besteht – etwa durch Sitzheizungen oder Laptops auf dem Schoß. Auch der Kaffeekonsum ist in Maßen unbedenklich. Nur eines steht außer Zweifel: das Alter. Ab dem 40. Lebensjahr nimmt die Spermienqualität statistisch signifikant ab – mit Folgen für die genetische Integrität.

Mythen zur Spermienqualität – was wirklich stimmt

Mythos 1: Das Alter des Mannes spielt beim Kinderwunsch keine Rolle.

Fakt: Ab dem 40. Lebensjahr sinkt die Spermienqualität. Zugleich steigt das Risiko für genetische Veränderungen – mit Folgen für Fehlgeburten und Entwicklungsstörungen.

Mythos 2: Enge Unterhosen machen unfruchtbar.

Fakt: Enge Kleidung allein ist unkritisch. Entscheidend ist Hitzeeinwirkung – etwa durch Laptops auf dem Schoß oder Sitzheizungen.

Mythos 3: Soja schadet der Fruchtbarkeit.

Fakt: Studien zeigen keinen negativen Effekt durch moderate Sojamengen – auch nicht wegen enthaltener Phytoöstrogene.

Mythos 4: Häufiger Samenerguss senkt die Qualität.

Fakt: Regelmäßige Ejakulation (alle 2–3 Tage) kann die Qualität verbessern. Längere Enthaltsamkeit wirkt sich eher negativ aus.

Mythos 5: Kaffee macht unfruchtbar.

Fakt: Bis zu drei Tassen Kaffee pro Tag sind laut Studien unbedenklich – ein direkter Zusammenhang mit Unfruchtbarkeit ist nicht belegt.

Ein medizinisches wie gesellschaftliches Thema

Was lange Zeit kaum Beachtung fand, betrifft inzwischen viele. Die Reproduktionsmedizin kann helfen, aber sie ersetzt nicht die Prävention. Das Kinderwunschzentrum in Feldkirch zeigt, wie durch Aufklärung, Beratung und interdisziplinäre Betreuung Lebensqualität und Erfolgschancen verbessert werden können.

So reduzieren Sie Schadstoffe im Alltag

Weichmacher vermeiden – so geht's:

  • Keine Plastikbehälter in der Mikrowelle verwenden
  • Auf Glas, Edelstahl oder Keramik beim Lagern und Erhitzen setzen
  • Plastikflaschen und Konservendosen – besonders bei Wärme – meiden
  • Kassenzettel aus Thermopapier möglichst nicht berühren
  • Kosmetika ohne „Phthalate“, „Fragrance“ oder „Parfum“ bevorzugen
  • Auf zertifizierte Naturkosmetik achten

Pestizidbelastung senken – mit diesen Tipps:

  • Obst und Gemüse gründlich waschen oder schälen
  • Bio-Produkte bevorzugen – besonders bei essbarer Schale
  • Regional und saisonal einkaufen
  • Verarbeitete Produkte wie Fertiggerichte möglichst reduzieren
  • Fleisch, Eier und Milch aus biologischer oder extensiver Haltung wählen

Es geht nicht nur um die Möglichkeit, ein Kind zu zeugen. Es geht um körperliche und seelische Gesundheit – und um den Umgang mit einem Thema, das für lange Zeit ein Tabu war.

Globales Warnsignal

Die Zahlen sprechen für sich – und sie sind keine Randnotiz, sondern ein globales Warnsignal. Die wissenschaftliche Evidenz zeigt nicht nur einen historischen Rückgang der Spermienqualität, sondern auch eine alarmierende Beschleunigung des Trends. Was zunächst als Phänomen westlicher Industriestaaten galt, betrifft mittlerweile Männer weltweit – unabhängig von Einkommen oder Kultur.

Quelle: Levine H. et al., Human Reproduction Update, 2022

Eine häufig zitierte Projektion warnt: Sollte sich der Trend linear fortsetzen, könnte die durchschnittliche Spermienkonzentration bis zum Jahr 2045 unter die von der Weltgesundheitsorganisation definierte Schwelle für Subfertilität von 16 Millionen pro Milliliter sinken. Diese Hochrechnung basiert jedoch auf einer Extrapolation aktueller Daten – sie ist wissenschaftlich nicht als gesicherte Prognose anerkannt. Gleichwohl zeigt sie, wie dringlich ein gesellschaftlicher und medizinischer Umgang mit diesem Thema geworden ist: Fruchtbarkeit ist keine private Nebensache, sondern ein Indikator für Umwelt, Gesundheit und Vorsorge.

Die wichtigsten Fakten zur Spermienkrise

  • Globaler Fokus: Levine-Metaanalyse 2023 mit 223 Studien aus 53 Ländern
  • Österreich-Daten: IVF-Register 2022: 19,1 Mio. € öffentliche Kosten, 54,1 % männliche Ursachen
  • Dramatische Zahlen: Spermienrückgang um 52,4 % seit 1973, Beschleunigung auf 2,64 % jährlich
  • EU-Perspektive: 32,5 % Rückgang in Europa; EFSA senkt BPA-Grenzwert um Faktor 20.000
  • Wissenschaftliche Tiefe: WHO-Referenzwerte (2021), DNA-Fragmentierung, ROS-Messungen
  • Gesellschaftliche Dimension: 93 % psychische Belastung – nur 40 % der Betroffenen suchen Hilfe
  • Prognose 2045: Möglicher Rückgang unter WHO-Subfertilitätsgrenze von 16 Mio./ml

Die stille Krise der Männlichkeit

In den Laboren der Reproduktionsmedizin zeigt sich weltweit dasselbe Bild: Die Spermienqualität nimmt dramatisch ab. Was lange als statistische Anomalie galt, hat sich zur globalen Krise entwickelt.

Die bisher umfassendste Metaanalyse des israelischen Epidemiologen Hagai Levine (2023) wertete Daten aus 223 Studien in 53 Ländern aus – über 57.000 Männer wurden untersucht. Ergebnis: Die durchschnittliche Spermienkonzentration sank von 101,2 Mio./ml (1973) auf 49 Mio./ml (2018). Das entspricht einem Rückgang um 52,4 %. Auch die Gesamtzahl der Spermien pro Ejakulat fiel um 59,3 %.

Besonders alarmierend: Die Abnahme beschleunigt sich. Zwischen 1973 und 2000 lag der jährliche Rückgang bei 1,16 %, danach verdoppelte er sich auf 2,64 %. Der Trend betrifft inzwischen alle Weltregionen – auch Südamerika, Asien und Afrika.

Europa ist besonders stark betroffen. Eine Analyse europäischer Männer zeigt einen Rückgang der Spermienkonzentration um 32,5 % innerhalb von 50 Jahren. Zusätzlich verschlechtern sich zentrale Qualitätsmerkmale:

  • Beweglichkeit sinkt um 0,57 % jährlich
  • Normale Spermienformen nehmen um 0,72 % pro Jahr ab
  • DNA-Fragmentierung steigt kontinuierlich

Laut WHO gilt ein Mann unter 16 Mio. Spermien pro Milliliter als subfertil. Bei linearer Fortschreibung des aktuellen Trends könnte dieser Wert weltweit bis 2045 unterschritten werden – auch wenn diese Prognose wissenschaftlich nicht bestätigt, sondern nur rechnerisch extrapoliert ist.

Österreich: Die versteckte Krise hinter dem IVF-Boom

In Österreich bleibt jedes sechste Paar ungewollt kinderlos. In 54,1 % der Fälle liegt die Ursache beim Mann – das zeigen aktuelle Daten des IVF-Registers. 2022 kamen hierzulande 4.132 Kinder durch assistierte Reproduktion zur Welt – etwa fünf Prozent aller Geburten.

Die Behandlungskosten steigen. Der IVF-Fonds investierte 2022 rund 19,1 Millionen Euro für 12.392 Behandlungszyklen, 70 % davon übernahm die öffentliche Hand. Die Erfolgsraten bei Frauen unter 35 Jahren liegen bei 40–50 %.

Trotz medizinischer Erfolge bleibt die männliche Fertilitätskrise in der öffentlichen Debatte weitgehend unsichtbar – auch wenn sie längst strukturelle Folgen hat.

Demografische Warnzeichen

Die Geburtenrate in Österreich fiel 2023 auf 1,32 Kinder pro Frau – in Wien sogar auf 1,17. Der Richtwert für Bestandserhalt liegt bei 2,1. Die sinkende männliche Fruchtbarkeit verstärkt eine Entwicklung, die nicht nur medizinisch, sondern auch gesellschaftlich explosiv ist.

(VOL.AT)

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