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ME/CFS: Oberlandesgericht übt deutliche Kritik an Gutachten

Sitz des Oberlangesgerichts Wien: Der Justizpalast
Sitz des Oberlangesgerichts Wien: Der Justizpalast ©APA/THEMENBILD
Das Oberlandesgericht Wien hat einem von einer ME/CFS-Betroffenen gegen die Pensionsversicherungsanstalt (PVA) geführten Verfahren wegen Entzugs des Rehagelds deutliche Kritik am vom Gericht eingesetzten Sachverständigen geübt. Gutachter seien demnach gefordert, sich mit dem aktuellen medizinischen Wissensstand auseinanderzusetzen, ebenso mit den Befunden der behandelnden Ärzte, so die Arbeiterkammer, die die Patientin im Verfahren vertrat. Das Ersturteil wurde aufgehoben.

Der von der schweren Multisystemerkrankung ME/CFS betroffenen Frau war das Rehageld (die vorübergehend gewährte Berufsunfähigkeitspension) im Jahr 2021 gewährt worden. 2024 entzog ihr die PVA dieses dann wieder - mit der Begründung, es gehe ihr gesundheitlich besser und sie sei arbeitsfähig, berichtete die Arbeiterkammer (AK) am Dienstag in einer Aussendung.

Das Wiener Arbeits- und Sozialgericht hatte zunächst die Entscheidung der PVA bestätigt. Die ME/CFS-Patientin wandte sich daraufhin an die AK Wien, um mithilfe der Kammer gegen dieses Urteil vorzugehen. Nach einer Berufung kam das Oberlandesgericht (OLG) Wien Ende Oktober zu dem nun vorliegenden "klaren Befund", mit dem das OLG "dem Gericht erster Instanz und den Gutachterinnen und Gutachtern der PVA eine Abfuhr erteilte", hieß es seitens der Arbeiterkammer. Das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts wurde vom OLG aufgehoben und zu einer neuerlichen Entscheidung an dieses zurückverwiesen.

Gutachter müssen sich mit Wissenschaft auseinandersetzen

Laut dem OLG-Beschluss, der auch der APA vorliegt, müssen Gutachterinnen und Gutachter sich sowohl mit allen Privatbefunden (der behandelnden Ärzte der Betroffenen) "nachvollziehbar" auseinandersetzen sowie den aktuellen medizinischen Wissensstand beachten: Die vom Gericht beigezogenen Sachverständigen treffe die Verpflichtung, "ihre Gutachten nach dem letzten Stand der Wissenschaft zu erstatten", schrieb das OLG.

Der (vom Erstgericht bestellte) Gerichtsgutachter habe laut OLG jedoch unter anderem nicht nachvollziehbar erklären können, warum das von der Betroffenen im Verfahren vorgelegte u.a. von Wissenschaftern der MedUni Wien und der Berliner Charité verfasste wissenschaftliche D-A-CH-'Konsensusstatement' zu ME/CFS "nicht den Stand der Medizin wiedergeben soll".

Auch habe der Sachverständige ausgeführt, dass es für das zentrale Symptom wie Post-Exertional Malaise (PEM) - eine Verschlechterung der Symptome nach körperlicher oder geistiger Anstrengung - "keine konkreten Untersuchungen" gäbe. Laut Arbeiterkammer seien diese zentralen Symptome wie PEM seitens des Gutachters "einfach ignoriert" worden. "Auch mache er keine Labor- oder immunologischen Untersuchungen, weil dies nicht in sein Fachgebiet falle", schreibt das OLG zu den Angaben des Gutachters.

Das Gericht betonte, der Gerichtssachverständige wäre "veranlasst gewesen, auf fehlende Befunde hinzuweisen bzw. diese - bei allfälliger Fachüberschreitung - anzuregen oder (...) direkt zu veranlassen". Kritisch beurteilte das OLG auch die Schlussfolgerung des Gutachters, wonach die von einem Internisten objektivierte POTS-Diagnose (eine bei ME/CFS oft vorkommende Kreislaufstörung) "kein Hinweis gewesen sei, sich ME/CFS 'genauer anzuschauen'". Und: "Auch wenn es sich bei POTS um eine fachfremde Diagnose handeln mag, hätte er diese für die aus seinem Fachgebiet zu beurteilende Erkrankung zu berücksichtigen gehabt."

AK: Rechte von ME/CFS-Betroffenen erstmals gestärkt

Im (beim Erstgericht) nun fortzusetzenden Verfahren werde sich der Gerichtssachverständige "nachvollziehbar" und "inhaltlich" mit den Privatbefunden und den zentralen Aussagen des interdisziplinären Statements "auseinanderzusetzen haben, insbesondere zu den erörterten Diagnosemöglichkeiten", verwies das Gericht unter anderem auf die erwähnten Symptome.

Die AK sprach angesichts des OLG-Beschlusses von einem "wichtigen Etappensieg": Das OLG habe damit klargestellt, dass Gutachterinnen bzw. Gutachter alle vorgelegten Befunde und den aktuellen medizinischen Wissensstand "genau und nachvollziehbar prüfen" müssen. Der Beschluss sei daher ein "wichtiges Signal für zukünftige Verfahren".

"Was eigentlich selbstverständlich sein sollte, bestätigt nun das Gericht", sagte AK-Jurist Levin Wotke, der das Verfahren in der AK Wien betreut. "Erstmals stärkt ein Gericht schwarz auf weiß die Rechte von ME/CFS Betroffenen. Medizinische Gutachterinnen und Gutachter müssen sich mit vorgelegten Befunden und der aktuellen medizinischen Wissenschaft auseinandersetzen - und sehr gut begründen, wenn sie davon abweichen." Die Gerichte müssen die Qualität medizinischer Gutachten strenger prüfen, insbesondere bei komplexen Erkrankungen wie ME/CFS oder Long Covid, so die AK.

Auch Recherche wies auf Probleme mit PVA-Gutachten hin

Auf Probleme mit der Gewährung von Versicherungsleistungen seitens der PVA bei ME/CFS- oder Post Covid-Patienten hatte bereits eine gemeinsame Recherche von APA, ORF und Dossier im Mai hingewiesen. In den damals dem Recherchekollektiv zugespielten und ausgewerteten Fällen wurden 79 Prozent der Anträge abgelehnt (oder bereits gewährte Leistungen entzogen). Die Diagnosen ME/CFS oder Post Covid wurden bei mehr als der Hälfte der Gutachten komplett negiert und bei rund 40 Prozent in eine psychische oder psychosomatische Diagnose abgeändert.

Auf Probleme deutete auch eine Anfragebeantwortung der zuständigen Sozialministerin Korinna Schumann (SPÖ) von Anfang November hin, die in der Vergangenheit stets auf die Selbstverwaltung der PVA verwies. Laut der damaligen Auskunft ist die Ablehnungsquote von Anträgen auf Rehageld oder Berufsunfähigkeits- bzw. Invaliditätspension auch unter jenen Patienten hoch, denen die PVA-Gutachter die Diagnose ME/CFS zubilligen: Die Ablehnungsquote stieg hier von 57 Prozent im Jahr 2022 auf 66 Prozent im Jahr 2024. In den Jahren davor (mit noch sehr wenig durch die PVA diagnostizierten ME/CFS-Fälle) lag die Ablehnungsquote nur zwischen 27 und 50 Prozent.

Für Aufsehen rund um die PVA sorgten im September auch kolportierte Aussagen von PVA-Generaldirektor Winfried Pinggera, wonach er bei einem Gesprächstermin mit dem Gründer der WE&ME-Stiftung, Gerhard Ströck, in Bezug auf ME/CFS-Patientinnen und -Patienten und deren Ärzte von "Trittbrettfahrern" und "Scharlatanen" gesprochen haben soll. Pinggera ließ die Behauptungen damals zurückweisen - es habe sich um "konstruktive Gespräche" gehandelt, hieß es. Ströck blieb auf Nachfrage dennoch bei seinen Aussagen.

(APA)

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