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"Eine psychologische Black Box" – Dr. Haller über ein kaum erforschtes Phänomen

Das "Vanishing Twin Syndrome" ist in der psychologie ein sehr umstrittenes Thema.
Das "Vanishing Twin Syndrome" ist in der psychologie ein sehr umstrittenes Thema. ©VOL.AT/Marina Jeremic/DALL.E (mit KI generiert)
Ein Zwilling überlebt, der andere verschwindet. Das "Vanishing Twin Syndrome" ist ein stilles Phänomen. Psychiater Dr. Reinhard Haller erklärt, warum es medizinisch nachvollziehbar, psychologisch aber kaum greifbar ist.

Viele Schwangerschaften beginnen als Zwillingsschwangerschaft – doch nicht immer kommen zwei Kinder zur Welt. Beim sogenannten "Vanishing Twin Syndrome" stirbt ein Zwilling bereits im Mutterleib. Das medizinische Phänomen ist gut dokumentiert – die psychologischen Folgen hingegen sind kaum erforscht.

Video: Dr. Reinhard Haller im Interview

"Man muss es aus zwei Perspektiven betrachten"

Das "Vanishing Twin Syndrome" beschreibt den frühen Verlust eines Zwillings im Mutterleib, meist durch Resorption des Embryos. Medizinisch werde das klar eingeordnet, sagt Dr. Reinhard Haller, einer der bekanntesten Psychiater Österreichs. Doch die psychische Dimension ist bisher kaum systematisch untersucht.

"Man muss das 'Vanishing Twin Syndrome' aus zwei Perspektiven betrachten", meint Dr. Haller. "Zum einen gibt es den medizinischen Aspekt – das ist gut erforscht und in der Regel unproblematisch. Zum anderen stellt sich die Frage, was im überlebenden Zwilling psychologisch zurückbleibt – und das ist weitgehend eine psychologische Black Box."

FAQ: Was ist das "Vanishing Twin Syndrome"?

Was bedeutet "Vanishing Twin Syndrome"?

Das Vanishing Twin Syndrome bezeichnet den frühen Verlust eines Zwillings im Mutterleib. Der verstorbene Embryo wird meist vom Körper der Mutter resorbiert und verschwindet "spurlos".

Wie häufig kommt das vor?

Schätzungen zufolge beginnen bis zu 20 % aller Schwangerschaften als Zwillingsschwangerschaften. In vielen Fällen stirbt ein Embryo frühzeitig, oft unbemerkt.

Gibt es körperliche Anzeichen?

Manchmal kommt es zu leichten Symptomen wie Schmierblutungen. In den meisten Fällen bleibt der Verlust aber medizinisch und emotional unbemerkt.

Hat der überlebende Zwilling psychische Folgen?

Das ist wissenschaftlich nicht belegt. Einige Betroffene berichten von Gefühlen wie Traurigkeit, Einsamkeit oder Unruhe. Psychiater warnen jedoch vor voreiligen Interpretationen.

Kann man im Nachhinein feststellen, ob man betroffen war?

Nur in sehr frühen Stadien ist ein medizinischer Nachweis möglich – später lässt sich das kaum belegen. Viele Vermutungen bleiben daher spekulativ.

"Wissenschaftlich höchst umstritten"

"Die Idee, dass ein solcher Verlust psychische Spuren hinterlässt, wird selten in der klassischen Psychiatrie behandelt", erklärt Dr. Haller. Der Begriff selbst sei eher von "Außenseitern" geprägt worden – etwa durch Heilpraktiker oder Vertreter sogenannter Regressionstherapien. "Dabei geht es um Rückführungen bis in den Mutterleib. Diese Methoden sind wissenschaftlich aber höchst umstritten und nicht empirisch belegt."

Er warnt vor voreiligen Schlüssen: "Das sind Hypothesen, die manche Menschen aufgreifen. Aber sie haben keinen Platz in einer anerkannten Therapieform."

Kann ein früher Verlust die Seele prägen?

Ob sich vorgeburtliche Erfahrungen wirklich auf die Psyche auswirken, ist laut Haller "sehr umstritten und schwer bis gar nicht beweisbar". Die Erinnerung beginne frühestens im dritten Lebensjahr, auch das Ich-Bewusstsein entwickle sich erst nach und nach – bei Zwillingen sogar etwas später.

"Vor allem eineiige Zwillinge erleben sich lange als Einheit. Wenn dann ein Zwilling fehlt, kann das Gefühle wie Einsamkeit, Trauer oder Unsicherheit hervorrufen", so Dr. Haller. "Dass solche Empfindungen mit dem frühen Verlust zusammenhängen könnten, erscheint manchen Betroffenen schlüssig – ist aber letztlich nur eine Annahme."

Die leere Fruchtblase (links) symbolisiert den verlorenen Zwilling. ©Symbolbild: DALL.E (mit KI generiert)

"20 Prozent aller Schwangerschaften beginnen mit Zwillingen"

Zwillingsschwangerschaften seien keine Seltenheit. "Man geht davon aus, dass etwa 20 Prozent aller Schwangerschaften ursprünglich mit Zwillingen beginnen. In den meisten Fällen stirbt einer der Embryonen frühzeitig, oft, ohne dass es bemerkt wird", erklärt Dr. Haller. Wird der Verlust nicht erkannt, könne er auch seelisch nicht verarbeitet werden.

"Sensibel mit dem Verlust umgehen"

Entscheidend sei, wie mit einem solchen Verlust umgegangen wird – besonders im familiären Umfeld. "Wenn ein überlebender Zwilling später erfährt, dass es ursprünglich zwei waren, ist es wichtig, das behutsam zu erklären. Wird es verdrängt oder verschwiegen, kann das zu unbewusster, möglicherweise depressiver Verarbeitung führen", betont der Psychotherapeut.

Er spricht sich dafür aus, die Zwillingspsychologie stärker in den Blick zu nehmen: "Das Bewusstsein, mit einem Zwilling verbunden zu sein – dieses 'Ich lebe ein Stück weit im Du' – gibt vielen Sicherheit. Umso wichtiger ist es, sensibel mit Verlusten umzugehen."

Resorption werde häufig gar nicht bemerkt

Auf die oft kolportierten Berichte, dass ein Zwilling "den anderen aufgegessen" habe, reagiert Dr. Haller nüchtern: "Das ist eine stark überzogene Darstellung. In der Realität wird der gestorbene Embryo meist resorbiert, wenn nicht genug Platz oder Nährstoffe vorhanden sind." Häufig werde das gar nicht bemerkt – eine hohe Dunkelziffer sei wahrscheinlich.

Was tun bei Verdacht auf psychische Folgen durch Zwillingsverlust?

Wer glaubt, unter den Folgen eines verlorenen Zwillings zu leiden, solle professionelle Hilfe suchen, rät Dr. Haller: "Erste Anlaufstelle ist der Hausarzt. Aber auch Gynäkologen, Kinderärzte und natürlich Psychotherapeuten oder Psychiater können helfen." Die Symptome wie Angst, Traurigkeit oder Unsicherheit seien meist unspezifisch. "Gerade deshalb ist eine fundierte Diagnose wichtig – nur dann kann auch die richtige Therapie erfolgen."

"Wir wissen zu wenig"

"In der Medizin gilt der Satz: Wer heilt, hat recht", sagt Haller. Wenn jemand aus der Vorstellung eines verlorenen Zwillings Trost oder Orientierung gewinnt, sei das legitim. "Aber gefährlich wird es, wenn dadurch notwendige Therapien bei Depressionen oder Essstörungen unterbleiben."

Sein persönliches Fazit: "Wir wissen schlichtweg zu wenig. Diese therapeutischen Ansätze sind nicht wissenschaftlich abgesichert. Aber sie sollten Anlass sein, uns intensiver mit der vorgeburtlichen Entwicklung und mit der Psychologie von Zwillingen zu beschäftigen – gerade weil Mehrlingsgeburten durch künstliche Befruchtung zunehmen."

(VOL.AT)

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