Im Jahr 1605 erließ Graf Kaspar von Hohenems einen Freibrief, der großen Anklang fand. Wer an der Stelle der heutigen Marktstraße ein Haus aus Mauer- oder Riegelwerk errichtete, bekam sein Baugrundstück geschenkt. Händler und Handwerker aus allen Himmelsrichtungen reisten an und die Gasse wurde in kürzester Zeit zur wichtigsten Geschäftsstraße des Ortes. Dies änderte sich erst 350 Jahre später, als in den 1970er-Jahren zunehmender Transitverkehr und die Errichtung von Einkaufszentren an der Peripherie das lokale Gefüge und den Ort an sich zu zerstören begannen. Die Konkurrenz immer größerer Strukturen bis hin zum Online-Handel und der zunehmenden Virtualisierung von sozialen Beziehungen führten schließlich zum buchstäblichen Verfall und zur Verelendung. In vielen anderen Städten reagierte man mit verkehrsberuhigenden Maßnahmen und Angeboten für Fußgänger und Gewerbetreibende. In Hohenems geschah lange nichts. Dennoch war die Bedeutung und das Potenzial der historischen Substanz bekannt und auch Resultat von Studien und Initiativen. Unterschutzstellungen des Bundesdenkmalamts konnten nur den unmittelbaren Abbruch, jedoch nicht den Verfall verhindern. Eine fehlende, oder wenig berechenbare Planungspolitik der Stadt tat das Ihrige.
Ausgehend von Erwerb und Sanierung der Villa Heimann-Rosenthal durch die Stadt (1983) und der folgenden Gründung des Jüdischen Museums traten vereinzelt private Initiativen und Investoren auf, die gegenläufig zum Verfall das historische Zentrum schrittweise restaurierten. Einer dieser privaten Unternehmer war Gerhard Lacha, der mit der wirtschaftlich und denkmalpflegerisch erfolgreichen Sanierung des „Elkan-Hauses“ 1997 ein Zeichen setzte. Er ermöglichte später mit einem Immobilienbeteiligungsmodell den Rückbau der ehemaligen jüdischen Synagoge in eine Musikschule und einen Veranstaltungssaal (Fertigstellung 2004). Es folgten weitere Sanierungsprojekte von denkmalgeschützten Bauten, die das Jüdische Viertel in ein attraktives Wohn- und Geschäftsquartier verwandelt haben (siehe dazu auch „Leben und Wohnen“ vom 20. 10. 2012).
Der zweite wichtige Straßenzug im Vorfeld des Schlossplatzes ist die ehemalige Christengasse, heute Marktstraße. Nur wenige unbeirrbare Geschäftsleute hielten ihren Standort oder investierten sogar mit einer Sanierung in den historischen Bestand, wie Optik Greber oder Weirather-Uhren. Verschiedene Umbauprojekte waren jedoch über die Jahre gescheitert. Seit wenigen Jahren hat die Entwicklung des gesamten Straßenzugs nun eine neue Dynamik erfahren. Die Lacha und Partner Gmbh erwarb über ihr erprobtes Investitionsmodell neun Bestandsbauten, führt mit ausgewählten Planungspartnern denkmalgerechte Sanierungen bzw. Erweiterungen durch und vermietet die entstandenen Wohn- und Geschäftsflächen als Bestandteil einer privatwirtschaftlichen Quartiersentwicklung.
Die meisten innerstädtischen Bau- oder Entwicklungsprojekte basieren auf Verkaufsmodellen. Sie konzentrieren sich auf den Erhalt markanter historischer Einzelelemente wie Straßenfassaden, Fabriksbauten oder -schlote und füllen die verbleibenden und maximierten Nutzflächen mit pragmatisch moderner Bausubstanz, die den oft kläglichen historischen Rest „kontrastieren“ soll. Dies wird klangvoll und sehr gewinnorientiert verkauft und steht naturgemäß im wirtschaftlichen Konflikt zur historischen Substanz und jeder Form von Nachhaltigkeit.
Die Hohenemser Beispiele Jüdisches Viertel und Marktstraße können als stichhaltiger Nachweis gelten für die Stimmigkeit eines verantwortlichen Anlagemodells im Zusammenhang mit kleinteiligen Quartiersentwicklungen und im Umgang mit öffentlichem Raum. Die Steigerung der weiteren Nachfrage, die Belebung und infolge Wertsteigerung des gesamten Umfelds liegen weiter im Interesse des Kapitals. Das umfassende Verständnis des Ortes und eine sorgsame Hand für die sozialen, stadtplanerischen und atmosphärischen Qualitäten eines Quartiers stehen hier ordnend über den gestalterischen Beiträgen von Architekten, Freiraumplanern und Inneneinrichtern. „d‘Gass“ hat ein professionelles Erscheinungsbild, das von den ersten Besuchen und Kontakten positiv bestätigt wird. Wichtig, denn gerade im städtischen Raum sind Brandings sehr sensible Gewächse, die gelebt werden müssen.
Sowohl beim Areal des früheren Autohauses Beck als auch bei der sich gerade im Bau befindlichen Marktstraße Nord werden Geschäftslokale und öffentliche Angebote forciert und mit Blick auf ein stimmiges Quartierbild gezielt vergeben. Bestehende Geschäfte und Einrichtungen werden in die Planungen und Bewerbungen ebenso einbezogen wie die neuen, eigenen gewerblichen Mieter. Eine Postkartenserie oder eine stilvoll gestaltete Quartierszeitung sind nur Beispiele, wie Kommunikation und Information in den Bauphasen den Zusammenhalt und die Identitätsbildung fördern. Vielleicht hat diese sehr persönliche Art des geschäftlichen Umgangs mit der Bregenzerwälder Herkunft des seit 2004 tätigen Geschäftsführers zu tun. Markus Schadenbauer-Lacha ist Schwiegersohn des Gründers Gerhard Lacha und zeichnet mit seinem Team für den finanziellen und organisatorischen Einklang verantwortlich.
Die Kombination eines Bioladens mit Café-Bewirtung und eines Yogazentrums führt beim Haus Marktstraße 28 zu einer stimmigen Synergie, welche die baulichen Konzepte mit Leben füllt. Das Gebiet der Hohenemser Altstadt zeichnete sich früher durch verschiedene Durchgänge aus, welche die Straßenzüge verbanden und auch das Innere der tiefen und schmalen Grundstücke mitbeleben konnten. Ein Fußweg vom Jüdischen Museum quert hin zur Marktstraße und führt weiter zu den drei Bebauungstiefen bis zur Schlossbergstraße. Zur Straße hin öffnen sich der Bioladen „Frida“ und das Modegeschäft „Lion“ einer heimgekehrten Hohenemserin.
Die Architektur ist zurückhaltend und bildet mit großzügigen Eichenholzrahmen eine stilvolle Basis. Darauf bauen die beiden Geschäftsleute mit spürbarer Begeisterung auf. Der Durchgang gewährt beiden Lokalen viel Auslagenfläche und führt in einen kleinen bekiesten Hof, der Gastgarten für den Bioladen ist und Vorfeld für das Yogazentrum in der zweiten Hausreihe, die mit einem Steildach auf typische Bauten in der Nachbarschaft reagiert. Im Ober- und Dachgeschoß darüber sind Maisonetten-wohnungen mit markanten, in Kupfer verkleideten Gauben untergebracht. Ein weiterer Durchgang führt in den holzverschindelten, zeitgenössischen Wohnbau in der dritten Reihe, der durch einen eingeschoßigen Flachbau verbunden ist. Diese Struktur spiegelt die einstige Bebauung wider und der Durchgang macht auch den Wechsel von der städtischen Straße zur unmittelbar ländlichen Nutzung erfahrbar.
In den Wohnungen selbst bleibt die Erbauungszeit spürbar. Im denkmalgeschützten Altbau wurden Raumhöhen vorsichtig korrigiert: Durch das Absenken einzelner Zwischendecken wurden bestehende Konstruktionen oder Holzverkleidungen erhalten. In Zusammenarbeit mit dem Denkmalamt wurden mitunter historische Bauelemente, wie Fußböden, Türen oder Öfen wieder eingebaut, die aus anderen Abbrüchen gesichert worden waren. Dekormalereien und Farbgebungen wurden restauriert und Materialien denkmalpflegerisch freigelegt. In der alten Substanz entsteht zumeist nur wenig Wohnfläche, doch die hofseitigen Zubauten erlauben eine großzügige Belichtung, aber auch den Einbau von Lift und eines baurechtlich einwandfreien Stiegenhauses. Dichte und niedrige Gebäudehöhen ergeben ein wohnliches und zugleich typisch kleinstädtisches Ambiente.
Die Geduld mit der Substanz der Gebäude und den Eigenheiten des Ortes, sowie der persönliche Kontakt zwischen Bauherrschaft, Planern und Nutzern sind spürbar. Ambition und Verständnis für den Ort, die man aus schon goldeneren Zeiten der Vorarlberger Baukultur kannte, leben hier auf gleich mehreren Ebenen wieder auf. Entgegen vielen misstrauischen Stimmen überzeugt der Besuch und Spaziergang vor Ort. Er weckt die Hoffnung, dass diese Blüte auch von kampferprobten Entschei-dungsträgern erkannt und gepflegt wird. Ein Ambiente von Aufbruch, von Bewusstheit, Qualitätsbewusstsein und unkomplizierter Nähe wirkt bereits jetzt sympathisch und macht Lust auf ein ganz neues Hohenems, dem man beim Entstehen zuschauen kann und das doch eine überraschende Logik und ein historisches Fundament zeigt.
Daten & Fakten Projektentwicklung
Objekt: d’Gass, Marktstraße Hohenems
Eigentümer/Bauherr: Lacha & Partner, Hohenems
Architektur: Nägele-Waibel, Dornbirn; Bernardo Bader, Dornbirn; Markus Malin, Innsbruck; Michael Egger, Bregenz
Fachplaner/ Ingenieure: Mader + Flatz ZT, Götzis; Geotechnik Döns, Schruns; Bauphysik: Gunter Meusburger, Schwarzenberg
Planung: 2012–2017
Ausführung: 2013–2017
Projektumfang: 11 Häuser (von 40 in der Marktstraße) 44 Wohnungen; 10 Büro- oder Dienstleistungs- einheiten; 11 Ladenlokale
Nutzflächen: 4500 m² (davon neu ca. 2000 m²) Denkmalschutzgerechte Sanierung zur Mischnutzung, Erdgeschoße an der Straße als Geschäftsflächen, Obergeschoße straßenseitig Büro- oder Wohnnutzung, 2. Reihe im Erdgeschoß Dienstleistungsflächen oder Kinderbetreuung, ansonsten Wohnnutzung
Besonderheiten: lediglich 760 m² Nutzfläche auf bisher unbebautem Grund
Heizung: Alle Gebäude mit Biomasse- Nahwärmeversorgung
Quelle: Leben&Wohnen – die Immobilienbeilage der Vorarlberger Nachrichten
Für den Inhalt verantwortlich:
Vorarlberger Architektur Institut
Das vai ist die Plattform für Architektur, Raum und Gestaltung in Vorarlberg. Neben Ausstellungen und Veranstaltungen bietet das vai monatlich öffentliche Führungen zu privaten, kommunalen und gewerblichen Bauten. Mehr unter architektur vorORT auf v-a-i.at
Mit freundlicher Unterstützung durch Arch+Ing
Sonntag, 27. September 2015
Tag des Denkmals
Am österreichweiten Tag des Denkmals können viele denkmal- geschützte und vorbildlich sanierte Gebäude in Vorarlberg besichtigt werden, u. a. das erwähnte Jüdische Viertel in Hohenems.
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