“Die Türken in Vorarlberg sehen den Besuch von Erdogan mit gemischten Gefühlen”, erklärt Adnan Dincer von der Arbeiterkammerfraktion “Neue Bewegung für die Zukunft” (NBZ). Grundsätzlich seien die türkischstämmigen Vorarlberger in zwei Lager gespalten: In die der Erdogananhänger und seine Kritiker. Die Beliebtheit Erdogans bei den Auslandstürken in ganz Europa habe nicht zuletzt mit der Situation in ihrer europäischen Heimat zu tun, ist das Vorstandsmitglied der Arbeiterkammer überzeugt.
Minderwertigkeitskomplex der Auslandstürken
Dieses Jahr ist das 50. Jubiläum des Anwerbevertrags für Gastarbeiter mit der Türkei. Jahrelang war die Situation für die ehemaligen Gastarbeiter alles andere als leicht. “In den Gastländern wurden sie oft nicht akzeptiert. In der Türkei wurden sie dagegen nur als ‘die Deutschen’ bezeichnet und als devisenbringende, melkbare Auslandstürken betrachtet”, erläutert Dincer. Man habe sich nirgends zugehörig fühlen können, was zu einem gewissen Minderwertigkeitskomplex der Auslandstürken führte.
Österreichs Türken unter Erdogan gleichwertig
Mit der Regierung Erdogan habe sich das geändert. Viele Auslandstürken würden bei ihren Heimatbesuchen Verbesserungen im Gesundheitssektor und Infrastruktur wahrnehmen, die Türkei trete auch auf dem internationalen Bankett selbstbewusster auf. Auch gegenüber den Auslandstürken ging Erdogan neue Wege, inzwischen gibt es für sie ein eigenes Staatssekretariat. “Erstmals fühlen sich viele als gleichwertige Türken – dank Erdogan.” Schlussendlich werden in den türkischsprachigen Sendern durchwegs regelrechte Lobhymnen übertragen, so Dincer.
Vorbehalte in der europäischen Heimat
Dem gegenüber stehen teilweise immer noch Vorbehalte in den Gastländern, trotz der inzwischen laufenden Integrationsprozessen. So auch in Vorarlberg. “Die erste Generation war zum Arbeiten hier. Die zweite Generation, zu der auch ich gehöre, wurde von den Eltern gefördert. Die dritte und vierte Generation fühlt sich jedoch oft nicht akzeptiert und identifiziert sich daher nicht mit ihrer europäischen Heimat.” Ihnen gebe Erdogan das Gefühl, nicht allein zu sein.
Jobangebote für junge Türken
So bekommen viele junge in Österreich lebenden Türken Jobangebote aus der Türkei, noch bevor sie einen Abschluss in der Tasche haben. Gleichzeitig werden Bewerbungen von türkischstämmigen HAK-Absolventen oft ignoriert. Dasselbe Zeugnis mit einem deutschen Namen werde eher zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Dies habe laut Dincer ein Versuch des NBZ gezeigt. So seien viele zwar stolz, ein Teil Österreichs zu sein, aber auch stolz auf die Errungenschaften unter Erdogan und die eigene Herkunft.
Erdogan strebe Präsidentschaft an
Dies schlägt sich auch auf die Präsidentenwahl im Sommer nieder. Es sei ein offenes Geheimnis, dass der türkische Premier mit diesem Amt liebäugelt, eine Kandidatur wird erwartet. Auslandstürken dürfen ebenfalls wählen, in Vorarlberg wird es ein Wahlzentrum für Personen mit türkischer Staatsbürgerschaft geben. “Auch viele Eingebürgerte wollen aus diesen Gründen für Erdogan wählen, obwohl sie gar nicht wahlberechtigt sind”, weiß Dincer. Darauf angesprochen, rechnen viele damit, dass Erdogan für sie eine Hintertür schaffen werde.
Dincer sieht Auftritt in Wien gelassen
Den Besuch selbst sieht der NBZ-Fraktionsobmann gelassen. “Ich halte die Aufregung für übertrieben”, so Dincer. Der Besuch werde weder die Demokratie in Österreich gefährden noch einen Keil zwischen die Gruppen treiben, ist er überzeugt: “Lasst ihn nur kommen.” Insgesamt scheint Erdogans Auftritt für das Gros der türkischstämmigen Vorarlberger keine Wienreise wert zu sein. ATIB-Obmann Osman Güvenc weiß auf VOL.AT-Anfrage von keinen organisierten Busfahrten nach Wien. Bei Ozkurtreisen in Bregenz will man von solchen Fahrten gehört haben, man habe jedoch nichts damit zu tun. “Wir haben kein Interesse an türkischen Politikern”, wird erklärt, man organisiere daher keine politischen Reisen, betont Hakan Özkurt.
(MRA)
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