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Aufnahmezwang für Osteuropäer und freiwillige Teilnahme der Schweiz

Flüchtlinge warten am österreichisch-deutschen Grenzübergang Freilassing.
Flüchtlinge warten am österreichisch-deutschen Grenzübergang Freilassing. ©APA
Es war ein Paukenschlag, wie es ihn seit Beginn der Flüchtlingskrise in der EU noch nicht gegeben hat. Mit einem Mehrheitsentscheid hat die Mehrheit der EU-Staaten osteuropäische Länder gezwungen, sich an der Umverteilung von 120.000 Flüchtlingen innerhalb Europas zu beteiligen.
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Die wichtigsten Fragen und Antworten rund um den Beschluss der EU-Innenminister vom Dienstag, der auch beim EU-Gipfel am Mittwochabend noch für Gesprächsstoff sorgen dürfte.

Wer profitiert von der Umverteilung?

Italien bekommt 15.600 Flüchtlinge abgenommen und Griechenland 50.400. Ursprünglich sollten auch aus Ungarn 54.000 Flüchtlinge auf andere Länder verteilt werden. Die Regierung in Budapest als vehemente Quotengegnerin wollte das aber nicht.

Was passiert nun mit Ungarns Kontingent?

Es wird nach dem ersten Jahr grundsätzlich auch Italien und Griechenland zugeschlagen. Allerdings kann die EU-Kommission vorschlagen, dass auch andere EU-Länder in Notsituationen Flüchtlinge abgenommen bekommen. Laut Innenministerin Johanna Mikl-Leinter (ÖVP) könnte dies auch Österreich betreffen. Von Diplomaten hieß es, Kroatien habe Bedarf angemeldet.

Welche Länder haben gegen die Umverteilung gestimmt?

Neben Ungarn auch Tschechien, Rumänien und die Slowakei. Finnland hat sich enthalten. Aus der Front der Quotengegner ausgebrochen ist Polen. Es stimmte dafür.

Sind Mehrheitsbeschlüsse bei den Innenministern ungewöhnlich?

Der Zwang zur Einstimmigkeit in der EU wurde durch den 2009 in Kraft getretenen Reformvertrag von Lissabon weitgehend beseitigt. Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit sind heute über alle Ressorts hinweg die am stärksten verbreitete Abstimmungsmethode. Im innenpolitisch besonders sensiblen Asyl- und Migrationsbereich sind sie aber ungewöhnlich.

Sind die Quotengegner zur Aufnahme verpflichtet?

Ja, es handelt sich um einen rechtlich bindenden Beschluss. Verweigerern droht ein Vertragsverletzungsverfahren. Der Streit könnte dann bis zum Europäischen Gerichtshof gehen und die Verhängung von Zwangsgeldern zur Folge haben.

Welche Ausnahmen sind möglich?

Bei “außergewöhnlichen Umständen” können Länder vorübergehend eine Aussetzung der Aufnahme für bis zu 30 Prozent der für sie vorgesehenen Flüchtlinge verlangen. Dies ist aber maximal für zwölf Monate möglich. Als Beispiel für außergewöhnliche Umstände nennt der Ratsbeschluss “einen plötzlichen und massiven Zustrom von Drittstaatenangehörigen” in dem betreffenden Land.

Wer muss nicht an der Flüchtlingsaufnahme teilnehmen?

Neben Italien und Griechenland, die ja entlastet werden sollen, wird Großbritannien keine Flüchtlinge aufnehmen, weil es auf seine Ausnahmeregelungen in der EU-Innenpolitik pocht. Passen könnten wegen Sonderregelungen auch Irland und Dänemark, sie wollen aber nach jüngsten Angaben der EU-Kommission mitmachen: Irland ist laut Kommission mit der Aufnahme von 4.000 Menschen dabei und Dänemark nimmt 1.000 Flüchtlinge auf.

Welche Nicht-EU-Länder machen mit?

Norwegen und die Schweiz haben ihre Bereitschaft erklärt, sich an der Umverteilung zu beteiligen. Zahlen für sie gibt es noch nicht.

Welche Flüchtlinge werden umverteilt?

Nur die mit einer hohen Chance auf Asyl. Die Schwelle wurde dabei auf über 75 Prozent Anerkennungsquote im EU-Schnitt festgelegt. Zuletzt war das bei Syrern, Eritreern und Irakern der Fall.

Gibt es einen finanziellen Ausgleich für die Aufnahme der Flüchtlinge?

Ja, aufnehmende Staaten bekommen 6.000 Euro pro Asylbewerber. Griechenland und Italien bekommen ihrerseits pro Kopf 500 Euro, um die Beförderungskosten für die Überstellung zu decken.

Müssen die Flüchtlinge in dem EU-Land bleiben, in das sie verteilt werden?

Ja, eine sogenannte Sekundärmigration in andere EU-Länder soll ausgeschlossen werden. Wer dies dennoch tut, wird notfalls zwangsweise in das festgelegte Aufnahmeland zurückgebracht.

Internationale Pressestimmen zu EU-Flüchtlingsquoten

Die Zeitungen schreiben am Mittwoch zur EU-Mehrheitsentscheidung zur Flüchtlingsaufteilung:

“Pravda” (Bratislava):

“Auf diese Weise wird die Migrationskrise nicht gemildert, sondern im Gegenteil verstärkt. Die Menschenschmuggler können sich die Hände reiben. Die Migranten wissen, dass die EU sie aufnimmt und ihnen nichts Schlimmeres drohen kann, als dass sie in eines der ärmeren postkommunistischen Länder geschickt werden.

Aus Erfahrung wissen wir, dass jene Flüchtlinge, die hier (in der Slowakei) in der Vergangenheit Asyl bekamen, nicht lange hierblieben. Der am Dienstag beschlossene Aufteilungsmechanismus löst also gar nichts. In ein paar Monaten werden das auch die ‘alten’ EU-Staaten sehen, und die Diskussion wird sich mehr hin zur Lösung wirklicher Probleme und der Verstärkung der Schengen-Außengrenze verschieben. Nur werden wir bis dahin viel wertvolle Zeit verloren haben, und das Problem wird umso größer sein, weil inzwischen weitere Hunderttausende Flüchtlinge unterwegs sein werden.”

“Lidove noviny” (Prag):

“Der gestrige Tag wird in die tschechische Geschichte als ein Tag der Niederlage eingehen. Eine Regierung, welche die Ablehnung verpflichtender Flüchtlingsquoten zu ihrem festen Programm gemacht hat und dann in Brüssel überstimmt wird, kann das nicht als Kompromiss und schon gar nicht als Sieg ausgeben. Es ist sinnlos, sich etwas vorzumachen. Die tschechische Regierung hat es genauso wie die slowakische, ungarische und rumänische nicht geschafft, Verbündete zu gewinnen, um den Fluch der Quoten zu brechen. (…) Das größte Problem ist, dass die europäischen Spitzenpolitiker Quoten als Lösung verstehen – statt den Schutz der EU-Außengrenzen anzugehen.”

“Hospodarske noviny” (Prag):

“Die Flüchtlingsquoten sind gegen den Willen Tschechiens beschlossen worden. Natürlich können wir uns nun erzählen, dass wir die letzten Hüter von Wahrheit und Rationalität in einem verrückt gewordenen Europa sind. Dagegen spricht die schlichte Erfahrung eines Sporttrainers: Wenn man 23:4 verliert, macht man sicherlich etwas falsch – im Angriff oder in der Verteidigung. Unsere Verteidigung war naiv und schwach. Niemand konnte das Gerede darüber ernst nehmen, dass alle Flüchtlingen so oder so nach Deutschland und Schweden wollen. Schwach war auch unser Angriff: Wir haben behauptet, das Problem im Herkunftsland lösen zu wollen, in Syrien, Libyen, Afghanistan und Afrika, stellten aber in unserem Budget nur 200 Millionen Kronen (7,39 Mio. Euro) für die Lösung der Krise bereit.”

“Berlingske” (Kopenhagen):

“Es ist bestimmt nicht die optimale Lösung, vier EU-Mitgliedsländer zu zwingen, Flüchtlinge nach einer Quoten-Ordnung entgegenzunehmen, wie es bei dem Treffen der Justiz- und Innenminister der EU am Dienstagabend geschehen ist. Es ist nie zuvor passiert, und man kann versuchen, sich vorzustellen, wie es vor sich gehen könnte, wenn Flüchtlinge auf Länder verteilt werden sollen, die sie nicht aufnehmen wollen und in denen diese vermutlich selbst auch nicht landen wollen. Auch wenn es laut der gemeinsamen Ausländer- und Asylzusammenarbeit möglich ist, eine qualifizierte Mehrheit dafür zu nutzen, einen Vorschlag durchzusetzen, hätten doch die wenigsten gedacht, dass die großen Länder das in einer Sache tun würden, die so wichtig für die nationale Selbstbestimmung ist.”

“De Standaard” (Brüssel):

“Wichtig ist, dass der heutige EU-Gipfel nun nicht mehr mit der vergleichsweise weniger drängenden Frage der Verteilung von 120.000 Asylsuchenden belastet wird. Es stehen grundlegendere Themen auf der Agenda. Aber dass (beim Treffen der EU-Innenminister) überhaupt erst eine Abstimmung stattfinden musste, ist bezeichnend für die tiefe Kluft in der Asylproblematik. (…) Es gibt nun zwar einen Beschluss, aber die Zerrissenheit in der EU war nie zuvor so deutlich sichtbar. Das lässt nichts Gutes ahnen, denn nur mehr Solidarität und mehr Disziplin bei der Umsetzung abgesprochener Regeln können die Hoffnung bieten, dass die Asylkrise in beherrschbare Bahnen gelenkt wird. Politische Verbitterung über erzwungene Beschlüsse und verlorene Schlachten tragen dazu absolut nichts bei.”

“Sme” (Bratislava):

“Flüchtlingsquoten per Mehrheitsentscheidung zu beschließen, ist extrem und wohl auch ein Meilenstein. Sowohl formell, weil der Konsens sonst üblich ist, als auch inhaltlich, weil Tschechien, Ungarn, die Slowakei und Rumänien in einer Frage überstimmt wurden, die als Säule der eigenen Souveränität empfunden wird: Wen wir zu uns lassen, soll der Hausherr entscheiden und kein anderer. Die Situation in der Union ist aber schon so kritisch, dass die Forderung nach Lastenaufteilung korrekt war. Eine Strafe von zwei Tausendstel des BIP ist ein akzeptabler Ausweg. Die Slowakei hätte deshalb im Finale nicht mehr gegen die Wand anrennen sollen. Damit hat sie nur ihre Niederlage noch sichtbarer gemacht und ihrem Ansehen geschadet, weil im Westen kaum jemand ihre Position verstehen wird.”

(APA)

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