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Wiener Juden nach '45: Jüdisches Museum zeigt pures "Leben!"

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Der Jahrestag des "Anschlusses" wurde bereits begangen, doch jeder Tag danach ist auch ein Jahrestag der folgenden Ereignisse. So fand am 18. März 1938 die erste Razzia auf die jüdische Kultusgemeinde in der Seitenstettengasse statt .

Der Beginn einer fast vollständigen Vertreibung jüdischen Lebens aus Wien. 70 Jahre später eröffnet heute, Dienstag, im Jüdischen Museum Wien eine eindrucksvolle Dokumentation über den rasanten Wiederaufbau eines vielfältigen, farbenfrohen und fröhlichen Lebens der jüdischen Gemeinde seit 1945.

“Leben!” ist der Titel der Ausstellung, die bis zum 22. Juni mehr als 3.500 Fotos der “jüdischen Paparazza” Margit Dobronyi versammelt, die sich mit ihrer Kamera stets auf Hochzeiten, Sommerfrischen und Bar Mizvahs herumtrieb. “Sie war keine Kunstfotografin und keine Sozialreporterin”, erklärte Ruth Beckermann, die aus den 150.000 Negativen des angekauften Dobronyi-Archivs auswählte und die Fotos als wildes Durcheinander installierte, bei der heutigen Pressekonferenz. “Sie war Berufsfotografin. Sie kam zu Festen, fotografierte und versuchte dann, die Bilder zu verkaufen.”

Mit Blitz angestrahlte Partygesichter lachen aus dem gesamten Ausstellungsraum, in Schwarz-weiß und in Farbe, mit wild toupierten 80er-Frisuren und in traditioneller jüdischer Tracht. Bräute vor und nach der Trauung, die Verwandtschaft beim Essen und Tanzen, Familienausflüge auf den Kobenzl und den Semmering. Die Fotos sind klein, wie Familienfotos eben sind, und wirken in ihrer scheinbar ungeordneten Masse als Sinnbild einer gemeinsamen Erinnerung an das pure Leben auf den Besucher ein.

Per Computer, Namens- und Bildregister kann man unter den Fotos auch nach alten Bekannten oder Vorfahren suchen und sie vielleicht bei einer charmanten Geste ertappen. “Nur eine Foto!” beliebte Margit Dobronyi zu rufen, wenn sie, manchmal auch uneingeladen, bei Familienfesten aufkreuzte und die Menschen von ihrer nettesten Seite zu erwischen versuchte. “Sie war eine jüdische Paparazza”, lachte Beckermann. “Sie suchte den Glamour-Faktor, sie zeigte die bunte Insel des jüdischen Lebens in dieser grauen Nachkriegsstadt.”

Lebensfreude und Neuanfang prägten dieses jüdische Wien, das sich vor allem aus Einwanderern aus Polen, Galizien, Ungarn, Rumänien und der Bukowina speiste. “Sie haben den ‘Anschluss’ nicht erlebt, sie haben auch die Schoah nicht in Wien erlebt. Diese Stadt hatte für viele noch immer etwas von der K.u.K.-Nostalgie”, so Beckermann, selbst Tochter dieser Einwanderergeneration.

Eine Ausstellung, die sich mit dem Leben nach der Schoah, noch dazu ohne diese zu thematisieren, beschäftigt, ist für das Jüdische Museum “Neuland”, wie Direktor Karl Albrecht-Weinberger bestätigte. “Wir gehen hier bis zur Gegenwart, Frau Dobronyi hat ja sogar noch die Entstehung des Museums selbst dokumentiert.” 2003 schoss die nunmehr 95-Jährige ihr letztes Foto. Scheinbar banale Familien und Partyfotos werden so zu einer “historischen Sammlung ersten Ranges”, betonte auch Kurator Werner Hanak-Lettner. “Dieser Fotobestand wird in Jahrzehnten, in Jahrhunderten unglaublich wichtig werden.” Es ist eben einmal keine Dokumentation des Sterbens, des Leidens, der Vertreibung, sondern ihres genauen Gegenteils. Mit diesem neuen Kapitel der Aufarbeitung jüdischer Geschichte, dem “Leben!”, beginnt das Museum selbst schließlich auch das Jubiläumsjahr seines 15-jährigen Bestehens.

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