Im Mai 1945 endet der Zweite Weltkrieg – nach sechs Jahren Terror, Zerstörung und unermesslichem Leid. In Europa wird der 8. Mai seither als Tag der Befreiung bezeichnet. In Vorarlberg geschieht sie bereits wenige Tage zuvor: Am 1. Mai laufen französische Truppen über Lindau nach Vorarlberg ein, bereits am 2. Mai wird Dornbirn kampflos übergeben. Binnen weniger Tage nehmen die Franzosen das gesamte Land ein. Viele Menschen wissen nicht, ob sie sich freuen oder fürchten sollen. Propaganda, Erschöpfung und das Ungewisse liegen schwer in der Luft.

Was bedeutete das Kriegsende damals – nicht im Rückblick, sondern im unmittelbaren Erleben? VOL.AT hat mit drei Zeitzeugen gesprochen, die sich auch nach acht Jahrzehnten noch erstaunlich genau an jene Tage erinnern.
Emma Giesinger (98) aus Doren: „Wir hatten Angst, dass die Russen kommen“
Emma Giesinger war 18 Jahre alt, als die Franzosen in Doren einzogen. Sie befand sich gerade in der Herrenschneider-Lehre, als sich das Dorf mit Gerüchten füllte: Der Krieg sei aus – aber wer kommt jetzt? „Wir haben Koffer gepackt, uns im Keller versteckt. Wir wussten nicht, ob wir flüchten müssen.“ Dann kamen französische Soldaten – und mit ihnen ein unerwarteter Alltag.
„Die haben das Haus, wo ich in der Lehre war, beschlagnahmt. Wir mussten Uniformen waschen, bügeln, Knöpfe annähen.“ Angst hatte sie keine mehr, sagt Emma – zumindest nicht vor den Franzosen. „Die waren sehr nett zu uns. Es gab sogar Schokolade.“
Zwei deutsche Soldaten versteckte ihre Familie im Heu – in einem Zwischenraum zwischen zwei Häusern. „Die hätten noch kämpfen sollen. Wenn man uns erwischt hätte – ich glaube, man hätte uns erschossen.“ Ihre Stimme bleibt ruhig, aber die Erinnerung sitzt tief.
Rückblickend ist sie dankbar, dass es die Franzosen waren, nicht die Russen. „Wir haben miteinander gelebt – einfach gelebt.“ Sogar einen Ball gab es später im Dorf, zu dem französische Offiziere die Mädchen einluden. „Mit unseren Eltern sind wir hingegangen.“
Heute, 80 Jahre später, hat Emma eine klare Botschaft an die Jugend: „Sie sollen aufpassen, dass das nicht wieder passiert. Und dass sie das auch würdigen.“ Der wohl emotionalste Moment des Interviews.

Charlotte Ströhle (99) aus Bregenz: „Die Angst war in uns hineinerzählt“
Charlotte war 19 Jahre alt, als Bregenz besetzt wurde. In der Stadt herrschte Alarmstimmung: Fliegerangriffe auf Friedrichshafen, ständiger Sirenenlärm, dann Durchsagen über Lautsprecher: Wer Angst hat, solle sich in den Bunker bei der Herz-Jesu-Kirche begeben. Charlotte ging mit ihrer Tante dorthin – was sie dort sah, hat sich eingebrannt.
„Es war eng, stickig, schlechte Luft. Die Knie berührten sich fast.“ Toiletten gab es keine, nur Kübel, die von Gefangenen laufend geleert wurden. „Das war schlimm“, sagt sie nüchtern.
Draußen kursierten Gerüchte: Marokkaner würden Frauen überfallen, Vergewaltigungen seien geschehen. „Die Angst war in uns hineinerzählt worden. Durch die Propaganda“, erinnert sie sich. Als sie nach Hause ging, wurde geplündert – nicht von den Besatzern, sondern von Einheimischen. „Die haben die Lebensmittelläden ausgeraubt, alles rausgeholt.“
Die Zeit unter den französischen Besatzern bleibt Charlotte als eine harte Zeit in Erinnerung – mit viel Arbeit und viel Leid. Dennoch beschreibt sie die Zeit davor als eine noch deutlich schrecklichere.

Josef Gunz (85) aus Bildstein: „Ich habe alles einfach auf mich zukommen lassen“
Josef war fünf Jahre alt, als französische Truppen Bildstein erreichten. Er saß in der Küche, den Kopf auf die Arme gestützt, während sein Vater verzweifelt versuchte, sich im Haus zurechtzufinden – und deutsche Soldaten im Keller versteckte.
„Dann kamen sie – aber nicht die Franzosen, sondern die Marokkaner.“, erinnert er sich. „Sie waren freundlich, haben den Kindern Rumkugeln gegeben.“ Ein Nachbar habe gelacht, Schnaps getrunken – und dann seien die Gäste überschwänglich geworden. Aber negativ blieb ihm nichts davon.
Bildstein war bäuerlich geprägt, Josefs Familie hatte genug zu essen: Eier, Käse, Butter – der Hof lag nahe der Sennerei. „Wir hatten keine Not.“
Was Josef besonders in Erinnerung blieb? Dass seine Mutter nicht zu Hause war. Sie war im Entbindungsheim in Alberschwende, erwartete ein Kind – und kam erst Tage später zurück.

„Dass es nicht wieder passiert“
Drei Geschichten – drei Perspektiven auf denselben historischen Zeitraum. Emma, Charlotte und Josef waren unterschiedlich alt, lebten an verschiedenen Orten, hatten andere Erfahrungen. Und doch eint sie etwas: Die Hoffnung, dass ihre Erinnerungen nicht vergessen werden.
„Dass das nicht wieder passiert“, sagt Emma Giesinger warnend und richtet ihre Sprache hier nicht nur an die Jugend, sondern auch an die Politik. In einer Zeit, in der nur noch wenige aus eigener Erfahrung sprechen können, liegt es an uns, zuzuhören – und weiterzuerzählen.

(VOL.AT)
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