AA

Türkei: Schröder ermutigt zu weiteren Reformen

Der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder hat Zweifel an einem pünktlichen Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zurückgewiesen. Er will am Verhandlungstermin festhalten.

„Eine so wichtige strategische Entscheidung von so ungeheurer historischer Bedeutung kann man nicht von wechselnden Meinungsumfragen abhängig machen“, sagte er am Mittwoch nach einem Treffen mit Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in Ankara. Gleichzeitig forderte er die türkische Regierung zur konsequenten Fortsetzung ihres Reformkurses auf.

Die EU hat im Dezember beschlossen, von 3. Oktober an mit Ankara über einen Beitritt zu verhandeln. Einzelne Umfragen in der Türkei und der EU haben seitdem auf eine abnehmende Akzeptanz eines solchen Schritts hingedeutet. Schröder warnte davor, die Dynamik des Beitrittsprozesses zu dämpfen. Beide Seiten müssten die Bedingungen erfüllen. Es sei wichtig, dass Ankara sage: „Unser Weg ist eindeutig, wir zögern nicht, wir werden diesen Weg entschieden weitergehen.“ Die EU müsse im Gegenzug den pünktlichen Beginn der Verhandlungen garantieren, der Türkei eine „klare europäische Perspektive“ geben.

Zugleich ermahnte Schröder die Türkei, die Dynamik des Reformprozesses beizubehalten. Vor der Aufnahme der Verhandlungen seien „noch ein paar Dinge nötig“. Hierzu gehöre eine „solide Umsetzung“ der türkischen Reformen, die ungeachtet „gelegentlicher Rückschläge“ gesellschaftliche Wirklichkeit werden müssten. Außerdem müsse die Türkei das Ankara-Protokoll unterzeichnen, mit dem die bestehende Zollunion auf die zehn neuen EU-Mitglieder ausgeweitet werden soll, darunter auf das bisher von der Türkei nicht anerkannte Zypern. Schröder sicherte zu, sich dafür einzusetzen, dass der Norden der geteilten Mittelmeerinsel die zugesagten EU-Gelder von 250 Millionen Euro erhalte.

Erdogan würdigte die deutsche Unterstützung für die EU-Ambitionen der Türkei: „Wenn man fragt, welches Land am nächsten zur Türkei steht, dann ist es Deutschland.“ Bis zum 3. Oktober muss die Regierung in Ankara Zypern mittels Ausweitung eines Zollabkommens faktisch anerkennen. Die deutsche Union bekräftigte unterdessen ihre Ablehnung eines türkischen EU-Beitritts.

Auch die Diskussion um das Massaker an Armeniern vor 90 Jahren im damaligen Osmanischen Reich kam zur Sprache. Schröder unterstützte den Vorschlag Ankaras, die Ereignisse von einer Historikerkommission aufarbeiten zu lassen. Er hoffe, dass auch die armenische Regierung „die Sinnhaftigkeit des Vorschlags“ erkenne. Erdogan zeigte sich besorgt über einen Antrag der CDU/CSU, der im Bundestag beraten wird. Darin heißt es, Berlin solle sich dafür einsetzen, dass die Türkei sich mit ihrer Rolle gegenüber den armenischen Christen „in Geschichte und Gegenwart vorbehaltlos auseinander setzt“. Rot-Grün hat bereits Zustimmung signalisiert. Bei der Vertreibung aus dem Osmanischen Reich wurden zwischen 1915 und 1923 bis zu 1,5 Millionen Armenier getötet. Die Regierung in Ankara weigert sich, von Völkermord zu sprechen.

Am Nachmittag reiste Schröder nach Istanbul weiter, wo mit dem ökumenischen Patriarchen Bartholomaios zusammentreffen wollte. Er betonte die Bedeutung der freien Religionsausübung; auch dies sei „Teil der EU-Agenda“. Indirekt forderte Schröder die Regierung in Ankara auf, das seit den 70er Jahren geschlossene orthodoxe Priesterseminar in Istanbul wieder zu eröffnen.

In der Doppelpass-Frage von Türken in Deutschland vereinbarte Schröder mit Erdogan, zusammen mit den Innenministern nach einer „schnellen, unkomplizierten und einfachen Lösung“ zu suchen. Man können Menschen nicht dafür bestrafen, dass sie die Gesetze nicht genau gekannt hätten, sagte Schröder. Hunderttausende Türken haben ihre deutsche Staatsangehörigkeit eingebüßt, weil sie nach 2000 wieder einen türkischen Pass beantragt hatten.

Erdogan ließ zu den einzelnen Themen keine Ansätze für Lösungen erkennen. In der Vergangenheit hatte er das Drängen der EU kritisiert. Nachdem die Euphorie über den Termin für Beitrittsgespräche in der Türkei verflogen ist, gibt es in der Öffentlichkeit zunehmend Klagen, die Türkei werde mit anderen Maßstäben gemessen als andere Staaten. Diese Klagen und der neu aufgeflammte türkische Nationalismus hatten Sorge vor einem Rückschlag im Reformprozess für eine EU-Annäherung ausgelöst.

Schröder kritisiert Demokratie-Defizite

Der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hat die Demokratie-Defizite der Türkei als unvereinbar mit den Standards der Europäischen Union kritisiert. „Misshandlungen durch Sicherheitskräfte, Beschränkungen der Meinungsfreiheit und Diskriminierung von Frauen sind mit europäischen Werten nicht vereinbar“, sagte Schröder am Mittwoch laut Redetext in einer Ansprache an der Marmara-Universität in Istanbul. Beschlossene Reformen müssten umgesetzt und unumkehrbar gemacht werden. Die Türkei müsse den Weg der Reformen konsequent weitergehen. „Sie darf in ihren Anstrengungen nicht nachlassen.“

Schröder hob in dem Redetext aus Anlass der Entgegennahme der Ehrendoktorwürde der Marmara-Universität die Sicherung des Rechtsstaates und der Grundfreiheiten sowie den „vollen Respekt der Menschen- und Minderheitenrechte“ als besonders wichtig hervor. Zudem solle die Türkei „ihren Reformbedarf im Bereich der Religionsfreiheit“ angehen, forderte der Kanzler, der kurz vor seiner Rede mit dem orthodoxen Patriarchen Bartholomaios zusammengetroffen war. „Auch nicht-muslimische Religionsgemeinschaften können als Bereicherung und Teil des kulturellen und religiösen Erbes Ihres Landes wahrgenommen werden“, sagte Schröder an seine türkischen Zuhörer gerichtet.

Mit Blick auf die von der EU geforderte Umsetzung der Reformen sagte Schröder, es sei allgemein bekannt, welche Voraussetzungen die Türkei bis zum Beginn der Beitrittsverhandlungen am 3. Oktober noch zu erfüllen habe. Weitere Bedingungen werde es allerdings nicht geben. Anfang März hatte das brutale Vorgehen türkischer Sicherheitskräfte gegen eine Frauendemonstration in Istanbul scharfe Kritik der EU ausgelöst.

Die Beitrittsverhandlungen würden sicher lang und schwierig, sagte Schröder. Der Verlauf der Verhandlungen werde wesentlich vom Fortgang der Reformen in der Türkei abhängen. Entscheidend sei dabei, dass die EU und Ankara das gemeinsame Ziel des türkischen Beitritts nicht aus den Augen verlören. Die Türkei habe mit den bisherigen Reformen schon Enormes geleistet – „es bleibt aber immer noch Enormes zu leisten“.

  • VOL.AT
  • Welt
  • Türkei: Schröder ermutigt zu weiteren Reformen