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Tugend statt Wert

„Die Krähen schrei’n und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: Bald wird es schnei’n –
Wohl dem der jetzt noch – Heimat hat.“ So beginnt ein Gedicht von Friedrich Nietzsche. Es stellt ein undefiniertes Unbehagen, eine Bedrohung, vielleicht eine kommende Kälte, eine Gefahr, in den poetischen Raum.

Im abstrakten Zusammenspiel von Form und Material entsteht Kunst. Die Parameter der komponierten Musik ermöglichen das genau festgelegte, deshalb wiederholbare Zusammenspiel von Tönen, Klängen, Rhythmen nach frei erfundenen und überlieferten, weil bewährten Gestaltungs- und Ordnungsprinzipien vom einfachsten bis zum hochkomplexen Ablauf. Jedes dieser akustischen Gebilde hat einen Anfang und ein Ende und ist in einem Plan (Partitur) kodiert notiert, produziert nichts Materielles, verbraucht dennoch Zeit und Energie. Musik ist von kurzer Dauer und scheint nutzlos. Obwohl immateriell, kann man sie aber essen und trinken und mit ihr ein Haus bauen. Sie ist ein Lebensmittel ohne Ablaufdatum.
Jede Gesellschaft beruht auf organisierten Parametern. Der Grad ihrer Organisation äußert sich in vielen Stufen von einfachster bis zu hochkomplexer Struktur. Komponierte Musik und organisierte Gesellschaft werden von Menschen produziert. Das Zusammenwirken der Menschen in der Musik (Duo, Chor, Orchester) wie in der Gesellschaft (Familie, Gemeinde, Parlament) bedingt das Erlernen und Anwenden der in jahrhundertelanger Entwicklung entstandenen Regeln, Ritualen, Formen und Spannungsverhältnissen, einzeln und in Gruppen, so dass sich jedes einzelne Mitglied der Gruppe darin wiederfinden kann. Jeder Mensch kann einsetzbarer Teil des Gesamten werden, Identität gewinnen, nutzbar und nützlich sein. Wenn dieses Zusammenspiel bedroht erscheint, zum Beispiel durch Lücken in der Weitergabe, stellt sich Unbehagen ein. Die Krähen schrei’n …

Ein Chor macht Musik und leistet dabei wichtige „soziomusikalische“ Bildung. Die im Zentrum des Tuns stehende Musik vermittelt abstrakt die Parameter, Formen, Formeln und Pläne, die auch der organisierten Gesellschaft eigen sind.

Wer, wie Parzival, die Grundvoraussetzungen einer organisierten (damals der höfischen) Gesellschaft nicht kennt, weil er sie nicht vermittelt bekommt, roh, unbehauen, ungelernt, „tumb“ ist, kann nur wenig mitmachen, er scheitert zuletzt. Parzival lernt nach erstem Scheitern die Regeln nach. Im Mittelalter werden sie idealtypisch mit „Tugenden“ bezeichnet. „Tugend“ scheint ein zielführenderer und herausfordernderer Begriff als „Wert“. Wertelehre, Werte, Wertekurse, Wertevermittlung klingen längst schal. Wert wird zum Muster ohne Wert. Im überstrapazierten Gebrauch hat der Wert die Aura verloren, die „Tugend“ besitzt.

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