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Türkisches Leben in Vorarlberg

Der islamische Friedhof in Altach wird nur langsam angenommen.
Der islamische Friedhof in Altach wird nur langsam angenommen. ©Stiplovsek, Çiçek
Schwarzach - Wie die türkische Einwanderungsgesellschaft im Land entstand.

Von: Michael Prock (VN) und Hüseyin Çiçek

Die Bilder sorgten für Irritationen, wenn nicht Entsetzen. Kinder, meist Buben, vor einem Lagerfeuer, den Wolfsgruß in die Kamera haltend, dem Erkennungszeichen faschistisch-nationalistischer Türken. Die Bilder stammen nicht aus der Türkei, sondern aus Vorarlberg. Auf den ersten Blick sieht auch das jüngste Wahlergebnis fatal aus. 70 Prozent der türkischen Wähler in Österreich haben für einen Autokraten gestimmt, der politische Gegner verfolgt, Journalisten einsperrt, den Rechtsstaat aushöhlt und die Meinungsfreiheit mit Füßen tritt. Aber Differenzierung lohnt sich. Von rund 300.000 in Österreich lebenden Menschen mit türkischem Migrationshintergrund verfügen rund 116.000 über die türkische Staatsbürgerschaft. Davon gingen 55.000 zur Wahl, wovon 38.000 für Erdogan stimmten.

Österreich ist ein Einwanderungsland. In Vorarlberg ist speziell die türkische Diaspora präsent, aber die Strukturen jenes Teils, der den Anschluss an die Mehrheitsgesellschaft verpasst hat, sind weitgehend unbekannt. Die VN möchten dies zusammen mit dem Experten Hüseyin Çiçek ändern. In unregelmäßigen Abständen wird ein Aspekt des Lebens der türkischen Community hier in Vorarlberg beleuchtet.

Eine große Rolle darin spielen die Institutionen wie Atib, Mili Görüs, Gülen-Bewegung und UETD. Sie sind vielfach in Integrationsgremien und Verbänden involviert, und zielen darauf ab, für ihre politischen, religiösen oder kulturellen Ziele Unterstützung zu gewinnen. Ein Beispiel ist der Genozid an den Armeniern. Die türkischen Diaspora-Organisationen versuchen, ganz Europa davon zu überzeugen, dass es keiner war. Auch in Vorarlberg kam es zu Demonstrationen gegen die Anerkennung als Völkermord.

Islam wird politisch

Alles beginnt in den 50er-Jahren. Unterstützt von den USA wird die Türkei demokratischer. Staatspräsident Adnan Menderes ist ein gläubiger Mensch, der Religion als Mittel sieht, den sowjetischen Materialismus zurückzudrängen. So findet der Islam den Weg in die Politik; bis ein Militärputsch 1960 aus Menderes‘ Wählern plötzlich politische Obdachlose macht, die vom Militär verfolgt wurden. Mit dem Anwerbeabkommen können viele dieser Menschen nach Deutschland und Österreich auswandern. Die Mär vom anatolischen Hinterwäldler als Paradeeinwanderer der damaligen Zeit blendet aus, wie komplex die Situation ist. Es gibt zu dieser Zeit auch Zuwanderer aus intellektuellen und politischen Kreisen, die versuchen, mithilfe von Kassetten und Veranstaltungen in Hinterhof-Moscheen oder Teehäusern für ihre politischen Zwecke zu werben. Schon in den 60er-Jahren werden Schriften türkischer Antisemiten verteilt.

Ein paar Jahre später, 1978. Im Iran nimmt die islamische Revolution ihren Lauf, 1979 beginnt der Krieg in Afghanistan. Die Attraktivität des Islams steigt weltweit. In der Türkei wächst die Angst des Militärs vor einer islamischen Republik, weshalb der Islam vermehrt Einzug in die eigene Identität erhält. Diese islamisch-nationalistische Identität hält sich bis heute und fand über den türkischen Sprach- und Religionsunterricht den Weg nach Europa. Womit wir in der Gegenwart angekommen sind. Ankara kann die eigenen Interessen über hiesige Organisationen auf österreichischem Boden vertreten. Über soziale Netzwerke, Zeitungen und Organisationen werden türkisch-religiöse, nationalistische und neoosmanische Einstellungen verbreitet. Wie sich diese Entwicklung auf Vorarlberg auswirkt, werden wir nun Schritt für Schritt beleuchten.

Zur Person Hüseyin Çiçek

Hüseyin I. Çiçek Politikwissenschaftler und Religionspolitologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa. Geboren 28.9.1978 in Erzincan (Türkei). Kam als Siebenjähriger mit seiner Familie nach Vorarlberg. Laufbahn Nach einer Maurerlehre absolvierte er die Studienberechtigungsprüfung und studierte in Innsbruck, New Orleans und Erlangen.

VN-Serie mit Hüseyin Çiçek über die Einwanderungsgesellschaften in Vorarlberg. Erscheint in unregelmäßigen Abständen.

(VN)

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Den Artikel lesen Sie auch in der aktuellen Ausgabe der Vorarlberger Nachrichten und online auf VN.AT.

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