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Tohuwabohu

Ulrich Gabriel
Ulrich Gabriel

Im Kindergarten lernen wir aufräumen. Schon die Mama hat es gepredigt und tut es noch immer: “Räum endlich dein Zimmer auf!”. Unsere Lehrer lehren uns, die Klasse aufzuräumen. Überall wird aufgeräumt. Aufräumen ist die erste Bürgerpflicht. Wer einen Garten besitzt, hat ihn, um aufzuräumen. Das Wohnzimmer muss aufgeräumt werden, die Küche andauernd, das Kinderzimmer ist nahezu unaufräumbar. Die 14-jährige Tochter verkündet, dass ihr Zimmer von niemandem betreten werden darf. Es ist ihr Chaos, ihr Kleiderkasten, ihr Sauhaufen. Sie schützt ihr Chaos, weil es gerade ihre Identität ist.

Wenn Besuch kommt, bemühen wir uns zu erklären: “Sie müssen entschuldigen, es ist leider nicht aufgeräumt!” Der die BesucherIn beeilt sich zu erwidern: “Aber das macht doch nichts, ich kenne das von mir zuhause”. Oder sie zeigt sich liberal: “Chaos ist die Basis der Kreativität. Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen!”.

Ist Ordnung schaffen ein Erbe der Menschheit? War das Paradies aufgeräumt ? Haydns Schöpfung beginnt mit der „Vorstellung des Chaos“. Der erste Klang ist Unisono, ein Einklang des gesamten Orchesters. Alle spielen ein C. Alle sind eins. Monotonie. War Gleichklang vor dem Urknall? Haydns Chaos steht im Viervierteltakt. Über c-Moll turnen Akkorde, Melodien, Rhythmen, Akkordzerlegungen, kurz die ganze musikalische Palette um 1798. Aber: es ist ein sanftes Modulieren, Trillern, Auflösen, Umdeuten, Auseinander- und Zusammenklingen. Eine ruhige Kugel. „Die Erde war ohne Form und leer und Finsternis war auf der Fläche der Tiefe.“ Was ist die Fläche der Tiefe?

Wir sind offenbar dazu bestimmt, immer Ordnung zu schaffen, neue Ordnungen zu erfinden und alte wiederherzustellen, obwohl wir wissen, dass jede Ordnung eine Verlegung, eine angeordnete Umordnung, meist ein Zubau ist. Indem wir ordnen, verlegen wir. Wer einen Verlag hat, hat keine Ordnung. Ordnungen verlangen Kraft. Zur Zeit regiert die unerbittliche Datenschutzverordnung.

Wer das Tohuwabohu auf dem Schreibtisch beseitigen will, braucht viel Energie bis endlich Ordnung ist. Aber wie sieht der Arbeitsplatz nach einer Woche aus: Chaos – wie von Zauberhand entstanden. Führt man einem System keine Energie zu, entsteht Chaos.

Ungebremster Ordnungsdrang kann jedoch gefährlich werden, verlangt ständige Beobachtung. Was aufgeräumt, geordnet ist, wird nämlich „sauber“ genannt. „Subr ufgrummt!“ Vom penibel sauberen bakterierenfreien Wohnzimmer zur politischen Säuberung ist es nicht allzuweit. Bedroht uns die Ordnung? Die brutale Ordnung räumt auch mit „unordentlichen“ Menschen auf. Von den Sauberen sind zumindest die Blitzsauberen verdächtig. Soll ich jetzt aufräumen? Es läutet, ich öffne: Es ist die Aufräumfrau.

Ulrich Gabriel
Ulrich Gabriel ©Ulrich Gabriel
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