Zwei Superlative, die es eigentlich gar nicht gibt, als Beschreibung für Tocotronic – das passt. Denn Tocotronic wollen offensichtlich eine hohe Qualität erreichen und damit auch ein Publikum – aber andererseits versuchen sie, sich auch immer wieder zu entziehen, eindeutigen Interpretationen ebenso wie Vereinnahmungen.
Mitte der 90er Jahre stolperte das Hamburger Trio mit Retro-Traingingsanzugjacken und räudigen Gitarren in die Underground-Musikszene, hatte tolle Songs dabei und mokante Slogans, schubste im Punk-Gestus die Vertreter vorangegangener Modewellen von der Seite an und galt mit seiner Verbrüderung von Eloquenz und E-Gitarre als außerordentlich hip. Schon zu Beginn ihrer Karriere sangen sie markante Parolen wie “Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein” zu bretternden Gitarren-Hymnen – und hatten es dann gar nicht so gemeint. “Als wir diese sehr direkten Texte geschrieben haben, waren diese nicht minder abstrakt als die Texte heute”, erklärt Sänger/Gitarrist Dirk von Lowtzow im Interview: “Als wir merkten, dass manche Leute anfingen, sich mit diesen Sachen zu identifizieren und für bare Münze zu nehmen, als persönliche Äußerungen zu sehen, da wurde uns ein wenig gruselig.”
Immerhin wurden Tocotronic, die ihre erste Single mit einem Kassettenrekorder aufgenommen und in Eigenregie vertrieben hatten, gehört. Mit ihren griffigen deutschen Texten, ihrem melodieverliebten Punk und ihrem Studenten-Charme wuchsen Tocotronic zur Größe im Indie-Kosmos, der gerade zu dieser Zeit von der aufblühenden elektronischen Musik überstrahlt wurde. Ihre Verweigerungshaltung unterstrichen sie, indem sie einen Preis eines Musik-Fernsehsenders ablehnten, ihre juvenile Kreativität mit Platten, die nicht einmal im Abstand von einem Jahr erschienen.
Um die Jahrtausendwende allerdings verließen Lowtzow, Jan Müller (Bass) und Arne Zank (Schlagzeug, Keybords) ihren bisher eingeschlagenen Weg und zeigten sich auf “K.O.O.K.” und “Tocotronic” musikalisch gereifter und textlich ambitionierter. 2004 schließlich steigt Rick McPhail als zusätzlicher Gitarrist mit ein und die Band veröffentlicht mit “Pure Vernunft darf niemals siegen” (2005) und “Kapitulation” (2007) die ersten beiden CDs ihrer (nach ihrem Aufnahmeort benannten) “Berlin”-Trilogie, denen nun als Abschluss “Schall und Wahn” folgt.
Tocotronic brechen dabei mit dem Stil der zurückliegenden beiden Alben; wie schon auf “K.O.O.K” einmal breiten sie sich in der Fläche aus. Es gibt gefährlich spitzigen Rock (“Stürmt das Schloss”), ausgefuchst schönen Folk-Pop (“Im Zweifel für den Zweifel”) und epischen Progressive-Indie-Rock (“Eure Liebe tötet mich”, “Gift”). Nachdem sich Tocotronic auf den vorangegangenen Alben eher auf eine bestimmte Fahrtrichtung festgelegt hatten, bleiben sie nun wieder dem Rastlosen, dem Schraffierten, der Abwechslung, dem Nicht-Festgelegten verpflichtet.
Auch textlich lässt der offensichtlich belesene Dirk von Lowtzow viel Interpretationsspielraum, malt Stimmungen und schildert Situationen, ohne gleich eine Geschichte daraus zu bauen. Und ohne die Hintergründe erklären zu wollen: “Wenn man die Witze immer erklären muss, werden sie ganz schnell schal”, sagt Dirk von Lowtzow. So bleiben Tocotronic auch auf ihrem neunten Album, eigenständig, monolithisch, freigeistig zwischen Rock-Schwere und Pop-Leichtigkeit schwebend – “tocotronisch”, eben, wie sie selbst manchmal sagen. Oder wie es Arne Zank ausdrückt: “Wir sind unser eigener Diskurs.”
Du hast einen Hinweis für uns? Oder einen Insider-Tipp, was bei dir in der Gegend gerade passiert? Dann melde dich bei uns, damit wir darüber berichten können.
Wir gehen allen Hinweisen nach, die wir erhalten. Und damit wir schon einen Vorgeschmack und einen guten Überblick bekommen, freuen wir uns über Fotos, Videos oder Texte. Einfach das Formular unten ausfüllen und schon landet dein Tipp bei uns in der Redaktion.
Alternativ kannst du uns direkt über WhatsApp kontaktieren: Zum WhatsApp Chat
Es hat einen Fehler gegeben! Bitte versuche es noch einmal.Herzlichen Dank für deine Zusendung.