Thomas Bernhards "Auslöschung" in der Burg bejubelt

Ich-Erzähler Murau in achtfacher Ausführung
Wie schon Oliver Reese im Jahr 2016 im Theater in der Josefstadt hat Willstedt den inneren Monolog des Ich-Erzählers Franz-Josef Murau auf mehrere Schauspieler aufgeteilt. Ein Kniff, den man auch aus ihrer "Orlando"-Inszenierung vom Vorjahr kennt. Waren es bei Reese noch vier Männer, sind es hier nun vier Frauen und vier Männer, die allesamt mit zurückgegelten, schulterlangen Haaren und blassen Gesichtern die rote Samttreppe bevölkern und einander von Weitem nicht zuletzt durch die in Braun- und Rottönen gehaltenen Hosen und Hemden (Kostüme: Maja Mirkovic) gespenstisch gleichen.
Die erste halbe Stunde, die Murau, der soeben von einem Heimatbesuch auf Schloss Wolfsegg nach Rom zurückgekehrt ist, in seiner Wohnung verbringt, spielt zunächst noch auf der Vorderbühne, wo die Treppe bald in einer ebenso roten Wand endet. In dieser räumlichen Enge erhält er jenes Telegramm, das ihn vom Unfalltod seiner Eltern und seines Bruders Johannes informiert. Also bleibt ihm nichts anderes übrig, als den Koffer wieder einzupacken und in die verhasste Heimat und zu den ebenso verabscheuten Schwestern Caecilia und Amalia zurückzukehren.
Abgeklärt und arrogant, manieriert und süffisant
Außer dem Buch gibt es zunächst noch keinerlei Requisiten, und so liegt es am Ensemble, Bernhards Sprachlawine durch Lachen, Atmen und bewusst gesetzte Pausen zu rhythmisieren. Durch die Vervielfältigung wolle sie dem Publikum die Möglichkeit geben, sich in einer der Personen selbst zu spiegeln, hatte Willstedt vorab im APA-Interview erläutert. Und tatsächlich kristallisieren sich bald individuelle Charakterzüge heraus: Jörg Ratjen gibt den manierierten Kauz, Alexandra Henkel überzeugt mit dezidierter Abgeklärtheit, Andrea Wenzl setzt auf die Arroganz des Outsiders und Seán McDonagh platziert süffisante Spitzen. Das ist herrlich anzuschauen und nimmt die Zuschauer zum Auftakt dieses etwas zu langen Abends gleich mit, was zahlreiche Lacher im Publikum immer wieder bestätigen.
Sobald Murau in Wolfsegg angekommen ist, findet er sich auf der nun doppelt so großen Treppe zwischen allerlei Tand und Begräbnisutensilien wieder: Rund um einen roten Samthirsch hat Bühnenbildner Mårten K. Axelsson Blasinstrumente, Schaukelpferde, Wanduhren, Kränze, ein Puppenhaus und Familienporträts drapiert, sogar ein ausgestopfter Wolf findet sich auf dem Anwesen, das Murau nun mitsamt seiner (Familien)geschichte auszulöschen gedenkt.
Hüpfende Schwestern und pendelnder Weihrauchkessel
Hier entfaltet sich der ganze Hass auf die nationalsozialistischen wie katholischen Verstrickungen der Familie, Erinnerungen an die Vergangenheit werden - wie beispielsweise die Hochzeitsszene zwischen seiner Schwester mit dem Flaschenstöpselfabrikanten - durch das Vorhalten von Dirndln und Trachtenanzügen angedeutet. Immer wieder brechen die Darsteller aus der Ich-Erzählung aus, etwa wenn Ines Marie Westernströer und Lilith Häßle in die Rolle der Schwestern schlüpfen und über die Stufen hüpfen, Aaron Blanck als tölpelhafter Fabrikant oder Norman Hacker als störrisches Familienoberhaupt kleine Soli absolvieren.
Stetig treibt Willstedt die Eskalation voran: Als schließlich der eines langjährigen Verhältnisses mit der verstorbenen Mutter verdächtigte Erzbischof Spadolini in Form eines überdimensionalen Weihrauchkessels aus dem Schnürboden schwingt und die Schauspieler die drei auf den Stufen platzierten Holzsärge malträtieren, ist Muraus Suada über das persönliche wie gesellschaftliche Trauma auf seinem Höhepunkt angelangt. Die Auslöschung - die Schenkung des Anwesens an die Israelitische Kultusgemeinde in Wien - kann vollzogen werden.
Nicht ausgelöscht, aber aufgrund des Romanumfangs von 650 Seiten zwangsläufig ausgespart werden in Willstedts Fassung die einen oder anderen Nebenfiguren und -handlungen, der Bernhard in seinem großen Monolog Gedanken und Erinnerungen gewidmet hat. Überhaupt gibt die Regisseurin dem Abdriften, dem sich ständig Wiederholenden zugunsten einer kohärenten Handlung allzu wenig Raum. Doch im Kern erschüttert die Botschaft immer noch: Egal, wie sehr wir uns bemühen, die familiäre wie gesellschaftliche Herkunft abzuschütteln, wir sind doch Teil eines kollektiven Traumas, das nie ganz verschwinden wird. Lang anhaltender Jubel beendete den Abend.
(Von Sonja Harter/APA)
(S E R V I C E - "Auslöschung. Ein Zerfall" nach dem Roman von Thomas Bernhard, Burgtheater. Regie: Therese Willstedt, Bühnenbild und Licht: Mårten K. Axelsson, Kostüme: Maja Mirkovic, Musik: Emil Assing Høyer, Jakob Munck. Mit Aaron Blanck, Norman Hacker, Lilith Häßle, Alexandra Henkel, Seán McDonagh, Jörg Ratjen, Andrea Wenzl und Ines Marie Westernströer. Weitere Termine: 21. und 25. Oktober sowie am 17. und 21. November. )
(APA)
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