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"Skeleton Tree": Das neue Nick Cave-Album Track by Track

©APA/AFP/CARL COURT
Wenn ein traumatisierendes Erlebnis Inspiration für schaurig-berührende musikalische Eskapaden wird: Nick Cave und seine Band The Bad Seeds weben auf "Skeleton Tree" einen dichten Klangteppich, der von einem schmerzlichen persönlichen Verlust geprägt ist. Ein Interpretationsversuch.
Album und Doku-Release
Persönliche Einblicke Caves

Die acht Tracks des 16. Albums Nick Caves, “Skeleton Tree” zeugen vor allem von einem großen Schmerz, den der Australier zu verarbeiten hat. Denn Cave verlor im Juli 2015 seinen Sohn Arthur, als dieser im Drogenrausch nahe dem elterlichen Haus im südenglischen Brighton von einer Klippe in den Tod stürzte. Im Folgenden findet sich der Versuch einer Interpretation des Werkes vor diesem Hintergrund.

“With my voice I am calling you”: Abschiednehmen in “Jesus Alone”

Ein Ruf nach dem verlorenen Sohn: Schon der Auftakt-Track, das bereits im Vorfeld ausgekoppelte “Jesus Alone” mit der beschwörenden Textzeile “With my voice I am calling you” zeichnet düstere Bilder in dunkelstem Schwarz. Jemand fällt vom Himmel, landet in einem Feld, es fließen Tränen, er ist bedeckt von einem Blut, das nicht das eigene ist. Dunkle und doch immer wieder hoffnungsvolle Erscheinungen durchziehen den Song – eine Frau im gelben Kleid, von Kolibris umgeben, ein Drogensüchtiger, der in Mexiko allein in einem Hotelzimmer liegt.

Andere Zeilen gemahnen möglicherweise daran, wie der Gottesglaube des in seiner Kunst stets christlich geprägten Musikers unter dem Verlust des Sohnes gelitten haben könnte. Cave scheint nicht ohne Bitterkeit die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass dem Schöpfer das Wohl und Wehe seiner Kinder eventuell gleichgültig ist (” You believe in God, but you get no special dispensation for this belief now / You’re an old man sitting by the fire, you’re the mist rolling off the sea / You’re a distant memory in the mind of your creator, don’t you see?”). Am Ende steht seine Bitte “Let us sit together in the dark until the moment comes”, die an ein gemeinsames Erwarten des Unausweichlichen gemahnt, vielleicht ein Warten auf das Abschiednehmen – etwas, das ihm und Arthur nicht vergönnt war.

“Rings of Saturn”: Unwirklichkeit des Selbst in großem Schmerz

Womit wir es in “Rings of Saturn” (dem persönlichen Album-Favoriten der Rezensentin) zu tun haben könnten, ist möglicherweise eine Insekt, eine Spinne, die zugleich auf etwas befremdliche Art eine Frau ist. Nicht auf allen Vieren, sondern auf allen Achten durchkriecht sie den Song, krabbelt im Licht der untergehenden Sonne haarig über den Teppich und zugleich in einem größeren Kontext über die Bestandteile der Kleinstadt, wandelt sich, wird zur mondbleichen Qualle, verspritzt Tinte wie ein Oktopus. Wer solcherlei beobachtet, ist vielleicht nicht ganz wach, vielleicht nicht ganz bei Sinnen, steht möglicherweise unter Drogeneinfluss wie Arthur Cave, in dessen Körper LSD nachgewiesen wurde.

“And I’m breathing deep and I’m there and I’m also not there” konstatiert Beobachter Cave, wobei man unweigerlich an das surreale Gefühl denken muss, das mit dem Verlust eines geliebten Menschen einhergeht – man selbst ist noch da, lebt weiter, atmet weiter und nimmt sich zugleich so wahr, als wäre man angesichts des überwältigenden Schmerzes tatsächlich nicht mehr ganz gegenwärtig. Das Wesen jedoch ist Tier, ist ganz bei sich, setzt unbeirrt seinen Weg fort. (“And this is the moment, this is exactly where she is born to be / Now this is what she does and this is what she is / And this is the moment, this is exactly where she is born to be / This is what she does and this is what she is.”)

“She remains, completely unexplained / Or maybe I’m just too tongue-tied to drink it up and swallow back the pain” spricht Cave hier auch offen den Schmerz an, der nun allgegenwärtig scheint. Schließlich verlässt das Wesen den Raum, das Bett, doch nicht ohne sich fragend nach dem Betrachter umzusehen: “Are you still there?” bevor es sich traumgleich hochhantelt und von den titelgebenden Ringen des Saturn herabbaumeln lässt.

“Girl in Amber”: Schleppende Schläfrigkeit, emotionale Lähmung

Das Bild des spinnengleichen Mädchens findet in “Girl in Amber” seine Fortsetzung. Jeder kennt die Bilder von in Bernstein gefangenen, tödlich eingeschlossen und für die Nachwelt natürlich konservierten Insekten. Hier haben wir es mit einem lähmenden Gefühl des Stillstandes zu tun, das der Song auch durch eine etwas schleppende, schläfrige Melodie vermittelt, mit einem Telefon, das nie wieder läuten wird. Die Welt bleibt nicht stehen, obwohl etwas Unerträgliches geschehen ist. In der bewusst zelebrierten Erinnerung an eine nicht mehr anwesende Person (“Let no part of her go unremembered”) liegt etwas Unbewegliches, Bedrückendes, der Betrachter wendet sich im Schmerz ab und distanziert sich, weil er nicht anders kann.

Auch hier finden sich wieder Textzeilen, die sich philosophisch dem Thema der Vergänglichkeit widmen – aber auch dem Umstand, dass man den Tod, wenn er tatsächlich eintritt, anders erlebt als gedacht. (” I knew the world it would stop spinning now since you’ve been gone / I used to think that when you died you kind of wandered the world / In a slumber til your crumble were absorbed into the earth / Well, I don’t think that any more the phone it rings no more”).

Der Song zeugt von Kapitulation – was geschehen wird, ist ohnehin unausweichlich (“And if you want to bleed, just bleed
And if you want to bleed, just bleed / And if you want to bleed, don’t breathe a word / Just step away and let the world spin” bzw. “And if you want to leave, don’t breathe a word / And let the world turn”) Der Song endet mit der viermaligen Beschwörung einer Distanzierung, die man aus Situationen kennt, denen eine emotionale Verletzung vorangegangen ist: “Don’t touch me”. Das Unglück ist bereits geschehen, was bleibt, ist der Wunsch, nicht weiter verletzt zu werden.

“Magneto”: Noch einmal mit Gefühl

“One more time with feeling” – so auch der Titel des die Veröffentlichung begleitenden Doku-Films vom australischen Filmemacher Andrew Dominik – heißt es im Track “Magneto”, der dem Zuhörer einige Rätsel aufgibt. Aus der Perspektive einer Frau, die “officially the bride of Jesus” geworden ist, erleben wir tiefe Abgründe, wie einen überwältigenden Drang jemanden zu töten (“Oh, the urge to kill somebody was basically overwhelming / I had such hard blues down there in the supermarket queues”). Ratlosigkeit macht sich breit, Überforderung scheint das alles beherrschende Thema zu sein. Heulende Hyänen, Lebensüberdruss, Blut und Erbrochenes beherrschen den Song, doch auch Anklänge an Liebe und Lachen werden kontinuierlich wiederholt (“In love, in love, I love, you love, I laugh, you love / I move, you move and one more time with feeling”). Was bleibt, sind dennoch ästhetische Bilder: “We saw each other in heart and all the stars have splashed and splattered ‘cross the ceiling”.

Alles verlieren, was wir lieben: “Anthrocene”

“All the things we love, we love, we love, we lose” so die ernüchterte Conclusio von Cave in “Anthrocene”. Verlust steht als Thema überdeutlich im Vordergrund, wenn er singt: “Here they come now, here they come / Are pulling you away / There are powers at play more forceful than we”. Ein wiederholter Aufruf zum Gebet durchzieht den Song und erinnert daran, dass christliche Motive in den Texten Caves die langen Jahre seines Schaffens hindurch stets wiederkehren. “Come on now, come on now / Hold your breath while you’re safe / It’s a long way back and I’m begging you please / To come home now, come home now” – von diesen Zeilen im Kontext der Ereignisse nicht berührt zu werden, fällt schwer.

“I Need You”: Bedeutungslosigkeit nach großem Verlust

“Nothing really matters when the one you love is gone” bringt es Cave in “I Need You” auf den Punkt.”We love the ones we can.” Die Trauer einer Frau in einem roten Kleid, die einen Verlust zu beklagen hat und in einer allzu banalen Alltagssituation in einem Supermarkt steht und die Augen niederschlägt, ist eines der stärksten Bilder in diesem Song, wenn nicht überhaupt im ganzen Album. Ohne den geliebten Menschen ist alles mehr oder weniger zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Man ist bemüht, den einem nahe Stehenden in seinem Herzen zu bewahren (“You’re still in me, baby / I need you / In my heart, I need you”). Dies gemahnt an eine Szene im Film “One More Time With Feeling”, in der Cave über Bewältigungsstrategien bezüglich des Todes Arthurs und vermeintlich tröstende Worte spricht und erläutert, dass ihm ständig gesagt würde, der verlorene Sohn würde in seinem Herzen weiterleben. Ja, der Sohn sei in seinem Herzen – aber er lebe eben nicht mehr, so Cave. Einige Zeilen gemahnen an Begräbnisszenen: “A long black car is waiting ’round / I will miss you when you’re gone / I’ll miss you when you’re gone away forever”.

Dem Himmel so fern: “Distant Sky”

Ein Aufbruch gen Himmel scheint das dominierende Thema in “Distant Sky” zu sein. Ein Paar lässt alles hinter sich und trifft dafür letzte Vorkehrungen: “Let us go now, my one true love / Call the gasman, cut the power out / We can set out, we can set out for the distant skies / Watch the sun, watch it rising in your eyes”. Man ist der großen Enttäuschung falscher Glaubenssätze anheim gefallen – weder auf Götter, noch auf Träume scheint Verlass zu sein (“They told us our gods would outlive us / They told us our dreams would outlive us / They told us our gods would outlive us / But they lied”). Zum Losgehen wird gedrängt, man erwartet das Aufstehen der Kinder, das man offenbar nicht mehr miterleben will – oder sollte hier gar das “Auferstehen” gemeint sein? (“Soon the children will be rising, will be rising / This is not for our eyes”)

Blick voraus in Hoffnung: “Skeleton Tree”

Am Abschluss steht schließlich der Titel gebende Track “Skeleton Tree” – Rufe nach dem nahe dem Meer in den Tod gestürzten Sohn inklusive (“I called out, I called out / Right across the sea / But the echo comes back in, dear / And nothing is for free”). Über einen solchen tragischen persönlichen Verlust hinwegzukommen, ist wohl nur zu schaffen, indem die sprichwörtliche Zeit alle Wunden heilt. Dennoch schließt Cave mit einer hoffnungsvollen, optimistischen Note – einem dreimalig wiederholten: “And it’s alright now”.

Conclusio: Als Hörer hat man das Gefühl, im Zuge von “Skeleton Tree” diverse Stadien der Trauer mit Nick Cave zu durchleben, und das stets poetisch aufbereitet und in Songs von tieftrauriger, eindringlicher, höchst intensiver Schönheit verpackt. Was bleibt, ist Gänsehaut – und eine wärmste Empfehlung dieses derart berührenden Albums.

(DHE)

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