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Polit-Thriller in London

Der US-Kongress feierte Tony Blair mit Ovationen: Stunden später war aller Jubel vergessen. In England wurde der Regierungsberater D. Kelly tot aufgefunden.

Der ehemalige UNO-Waffeninspektor soll als Erster den seit Wochen heiß diskutierten Vorwurf erhoben haben, die Regierung Blair habe die Beweise für irakische Massenvernichtungswaffen aufgebauscht.

Blairs engster Berater, der mächtige PR-Chef Alastair Campbell, hatte sich alles so schön vorgestellt. An diesem Freitag sollte das britische Fernsehen nach langer Zeit endlich mal wieder Blair den „Triumphator“ zeigen – frenetisch gefeiert vom US-Kongress. Stattdessen sahen die Zuschauer immer wieder den Rand jenes Waldstücks, in dem Kellys Leiche gefunden worden war. Jetzt werde Campbell wohl gehen müssen, mutmaßte der Chefkommentator des Senders Sky News, Adam Boulton.

Wenn sich Kellys Tod als Selbstmord herausstellen sollte, wird die Regierung dafür mitverantwortlich gemacht werden. Denn es war Verteidigungsminister Geoff Hoon, der Kellys Namen erstmals öffentlich als Quelle für die in der BBC erhobenen Vorwürfe gegen Blair genannt hatte. Erst am Dienstag war der renommierte Experte deshalb vor einen Untersuchungsausschuss des Unterhauses zitiert worden.

Mit leiser Stimme hatte der sichtlich eingeschüchterte Mann mit dem grauen Vollbart dort ausgesagt, von einzelnen Abgeordneten ruppig aufgefordert, doch gefälligst lauter zu sprechen. Die Regierung habe den „ehrenwerten Dr. Kelly den Wölfen zum Fraß vorgeworfen“, befand hinterher der konservative Abgeordnete Sir John Stanley.

Die Suche nach den wahren Hintergründen des Irak-Krieges, die Großbritanniens Öffentlichkeit seit Wochen beschäftigt, ist nun vollends zum Polit-Thriller geworden. Der Ausgang ist ungewiss, aber eines steht fest: Mit schönen Reden wie vor dem US-Kongress wird Blair das Blatt diesmal nicht wenden können. Die wesentliche Aussage seiner Ansprache, selbst wenn keine Massenvernichtungswaffen gefunden werden sollten, wäre der Irak-Krieg gerechtfertigt gewesen, wurde in der Heimat mit Fassungslosigkeit aufgenommen. „Eine atemberaubende Frechheit“, urteilte die „Daily Mail“.

In einer ersten Reaktion kündigte die Regierung am Freitag eine gerichtliche Untersuchung zu den Umständen des Todes von Kelly an. Die Ablenkungsmanöver der PR-Experten aus der Downing Street hätten eine „Tragödie von entsetzlichen Ausmaßen“ verschuldet, kritisierte das konservative Ausschussmitglied Richard Ottaway. Der Tod des potenziell wichtigen Belastungszeugen Kelly werde Blair nicht nützen, sondern schaden.

Von Blair, den die Nachricht während eines Flugs von Washington nach Tokio erreichte, war zunächst nichts zu hören. Böse Zungen erklärten dies mit der Abwesenheit seines „Sprachrohrs“. Die Graue Eminenz Alastair Campbell, der Kommunikationsdirektor, der normalerweise auf allen Flügen selbst dann noch Akten wälzt und den nächsten Tag vorbereitet, wenn der Premierminister schon in tiefen Schlaf gesunken ist, weilte diesmal am anderen Ende der Welt. Nach Blairs umjubelter Kongress-Rede war er befriedigt nach Hause geflogen.

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