AA

Opfer im Dorf des NS-Täters - Jules Schelvis im Interview

Der Holocaust-Überlebende im Dorf des NS-Massenmörders: Jules Schelvis aus Amsterdam referierte in Egg. Jules Schelvis im Interview mit Seff Dünser.

NEUE:
Wie geht es Ihnen in Silbertal im Montafon, jenem Dorf, aus dem Josef Vallaster stammt, der im Juni 1943 im deutschen NS-Vernichtungslager Sobibor im Südosten von Polen auch an der Ermordung Ihrer Frau mitgewirkt hat?

Jules Schelvis:
Ich wusste, was mir bevorstand, bevor ich hierher kam. Mein Freund, der deutsche Journalist und Historiker Peter Witte, war schon vor 20 Jahren hier.

NEUE:
Witte hat schon 1988 darauf aufmerksam gemacht, dass Josef Vallaster auf dem Gedenkstein vor der Kirche als Opfer des Krieges erwähnt wird.

Ja, er wusste, dass dieser SS-Mann 1942/43 mit der Vergasung der Juden in Sobibor beschäftigt war.

NEUE:
Haben Sie Vallaster damals in Sobibor gesehen?

Nein, ich war nur drei Stunden dort. Ich hatte das Glück, einer von 80 Männern aus dem Transport von 3000 jüdischen Niederländern zu sein, die als Arbeitshäftlinge ausgewählt wurden und nicht sofort vergast wurden. Ich wurde dann in ein Arbeitslager gebracht. Ich habe also mit Glück überlebt.

NEUE:
Sie waren 22 Jahre jung und haben in Sobibor Familienangehörige verloren, die dort ermordet wurden, weil sie Juden waren.

Ja, ich habe so meine Frau Rachel verloren, die ich 1941 geheiratet hatte, und meine Schwiegereltern.

NEUE:
Welche Gefühle haben Sie beim Gedanken daran, dass Josef Vallaster als SS-Aufseher beim Vergasen für die Morde mitverantwortlich war?

Ich weiß das schon so lange und spreche schon so lange öffentlich darüber, dass ich da ein bisschen immun geworden bin. Es klingt sicher komisch, aber deshalb kann ich das ganz locker erzählen. Zudem war ich seitdem schon so viele Male in Sobibor, wo eine Gedenkallee mit Gedenksteinen für die Opfer errichtet wurde. Im Oktober werde ich wieder hinfahren und mein Wissen Lehrern weitergeben.

NEUE:
Wie sind Sie mit den während des Krieges erlittenen Schicksalsschlägen fertig geworden?

Hätte ich mich aufhängen sollen? Man muss doch weiterleben. Vergessen kann man das natürlich nicht. Oder vielleicht doch ein bisschen, sonst kann man nicht leben.

NEUE:
Haben Sie das Schreckliche verdrängt?

Viele Jahre hatte ich tatsächlich den Rollladen heruntergelassen. Lange wusste niemand in dem holländischen Betrieb, in dem ich Drucker war, dass ich Vernichtungslager wie Sobibor und Auschwitz überlebt hatte. Ich wollte mir einfach ein neues Leben aufbauen. Dann hat mich ein Journalist von der Zeitung, die wir produziert haben, interviewt. So kam dann alles ganz anders. Ich wurde Mitte der sechziger Jahre Nebenkläger in einem Sobibor-Prozess in Hagen in Deutschland. Karl Frenzel, Leiter des Arbeitskommandos, erhielt, wie auch ich gefordert hatte, lebenslänglich, musste die Haft aber nicht antreten, weil er alt und krank war.

NEUE:
Fühlen Sie sich schuldig, überlebt zu haben?

So etwas lehne ich ab. Ich hatte ein anderes Ziel. Ich habe nach der Befreiung durch die Franzosen 1945 meine Geschichte aufgeschrieben, auf der Rückseite von deutschen Formularen. Das war die Basis für mein 1982 erschienenes Buch „Eine Reise durch die Finsternis“. Danach habe ich „Vernichtungslager Sobibor“ geschrieben, das als das wichtigste historische Buch zu diesem Thema gilt.

NEUE:
Ohne dieses Buch wäre noch weniger über Josef Vallaster bekannt.

Über ihn ist überhaupt ganz wenig bekannt. Er soll nach Aussagen von anderen SS-Männern aus Sobibor ein unmöglicher, grauenhafter Mensch gewesen sein.

NEUE:
Warum setzen Sie sich für die Erinnerung an den Holocaust ein?

Ich möchte vor allem der Jugend erzählen, was mit den Juden passiert ist. ­Sobibor etwa kennt kaum jemand. Wenn man zu wenig über die Geschichte weiß, weiß man nicht, wie man die Zukunft gestalten soll.

NEUE:
Verspüren Sie Hass und Wut auf die NS-Täter?

Das gab es eine gewisse Zeit danach. Aber damit kann man auf Dauer nicht leben.

NEUE:
Sie sagen: „Das Geheimnis der Versöhnung heißt erinnern. Zur Versöhnung bin ich bereit, vergessen kann ich nicht.“ Sind Sie versöhnt mit der Vergangenheit?

Noch nicht ganz. Aber es gibt kaum noch Leute, die damals Nazis gewesen waren.

NEUE:
Zählen auch Sie zu den Holocaust-Überlebenden, die nicht mehr an Gott glauben?

Ich habe noch nie an Gott geglaubt. Wir waren Humanisten und sind nicht in die Synagoge gegangen. Gottseidank habe ich nicht an Gott geglaubt. Denn die Religion hat viel Unglück gebracht. Ich glaube an das Gute im Menschen. Aber sagen Sie, wie ist das möglich, dass damals so viele Österreicher in den Vernichtungslagern Dienst geleistet und am Heldenplatz gejubelt haben? Von 38 SS-Männern in Sobibor waren neun Österreicher.

NEUE:
Österreich war im Dritten Reich eben nicht nur Opfer, sondern auch Täter.

Deshalb bin ich lange nicht nach Österreich gekommen. Erst die Musik hat mich nach Salzburg gebracht. Jetzt spreche ich erstmals in Österreich.

NEUE:
Warum sprechen Sie als Niederländer so gut Deutsch?

Wir hatten in der Schule Deutsch. Zudem musste man in den NS-Lagern die deutschen Befehle rasch verstehen.

NEUE:
Haben Sie nach dem Krieg wieder geheiratet?

Ja, 1946 habe ich wieder geheiratet. Ich habe zwei Kinder und drei Enkelkinder. Meine Frau ist vor acht Jahren gestorben.

NEUE:
Ihr Hotel in Silbertal liegt direkt neben dem umstrittenen Denkmal für die Kriegsopfer, vor dem Sie nicht fotografiert werden möchten. Wie haben Sie geschlafen?

Ich habe sehr gut geschlafen. Man kann sich ja nicht nur mit dem Krieg beschäftigen.

Quelle: NEUE/Seff Dünser

home button iconCreated with Sketch. zurück zur Startseite
  • VOL.AT
  • Egg
  • Opfer im Dorf des NS-Täters - Jules Schelvis im Interview