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Merkel, Tsipras und das "Grexit-Gespenst": Deutschlands Spiel mit Griechenland

Griechen nehmen neue Auflagen für Verbleib im Euro in Kauf
Griechen nehmen neue Auflagen für Verbleib im Euro in Kauf ©AP
Mehr als 17 Stunden haben sie gerungen und gestritten. Fast wären beim Krisengipfel alle Mühen um Griechenlands gescheitert - vor allem an der Hardliner-Position Berlins. Peinigung statt Einigung, meinen die einen. Andere gehen noch weiter und sprechen von mentaler Folter. Merkel zeigte sich als eiserne Kanzlerin. Aber ist Hellas wirklich gerettet?
Die Vereinbarungen im Überblick
Zittern um Zustimmung

Es war ein harter Kampf. In der Nacht zum Montag standen die Gespräche mehrfach auf Messers Schneide, immer wieder drohten Delegationen damit, sofort abzureisen. “Um sechs Uhr morgens sagten alle: Es geht nicht, wir brechen ab”, berichtet ein Teilnehmer über die Gespräche im kleinen Kreis zwischen Deutschen, Franzosen und Griechen.

Tusk: “Wir bleiben in diesem Raum, bis wir uns geeinigt haben”

EU-Gipfelchef Donald Tusk habe aber klar gemacht, dass es keine Alternative gebe – zumal ein Scheitern die Börsen abrutschen lassen würde, die schon bald öffnen sollten. Tusk habe seine Worte sorgfältig gewählt: “Wir bleiben in diesem Raum, bis wir uns geeinigt haben.” Und so blieben alle. Und verhandelten weiter.

Folter in der Gipfelnacht?

Waterboarding stammt aus dem Bereich der Folter und bedeutet simuliertes Ertränken. Gefangenen wird ein Tuch über den Kopf gelegt und Wasser darüber gegossen. Sie glauben, zu ersticken. Eine grausame Praktik. “Mentales Waterboarding” sei Tsipras beim Euro- Krisengipfel widerfahren, analysieren Medien und machen vor allem Kanzlerin Merkel und Finanzminister Schäuble als Peiniger aus.

Merkel und Tsipras kämpfen um Hilfspaket

“A quoi joue l’Allemagne?” (Welches Spiel spielt Deutschland?) Die Titelseite der linksliberalen französischen Tageszeitung “Liberation” vom Montag fasst gut in Worte, was sich in der Nacht auf Montag viele Journalisten im Brüsseler Pressezentrum fragten.

Denn traditionell gilt die deutsch-französische Achse ja als Antriebsmotor des europäischen Projektes. Bei den Verhandlungen über eine Lösung im griechischen Schuldendrama wirkte es zuletzt allerdings eher so, als würde Berlin alles tun, um eine Lösung zu boykottieren. Auch um den Preis eines Glaubwürdigkeitsverlustes der gesamten Union.

Das “Grexit-Gespenst”

Die Wut über Deutschland hat vor allem die von Schäuble beförderte Idee ausgelöst, Griechenland notfalls vorübergehend aus dem Euro ausscheiden zu lassen. Damit wurde einem Land noch nie gedroht. Merkel versucht zu beschwichtigen, dass ein solcher Plan B nur in Übereinstimmung mit allen Euro-Staaten – einschließlich und ausdrücklich auf Wunsch Griechenlands- beschlossen worden wäre.

Sonntagabend war bekannt geworden, dass die tags zuvor bekannt gewordenen Forderungen des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble – entweder ein “Grexit auf Zeit” oder aber ein griechischer Privatisierungsfonds über 50 Mrd. Euro unter nicht-griechischer Verwaltung – tatsächlich als Optionen in den Empfehlungen der Euro-Finanzminister an die Staats- und Regierungschefs fanden. Und, dass Deutschland nicht bereit sei, auf beide zu verzichten.

Schnell kristallisierte sich heraus, dass ein “Grexit auf Zeit” alles andere als mehrheitsfähig war. Vor allem sozialdemokratische Staats- und Regierungschefs waren sich in ihrer Ablehnung einig. Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) sprach von einem “unannehmbaren” und “entwürdigenden” Vorschlag.

Krisengipfel scheitert beinahe an Privatisierungsfonds

Am Privatisierungsfonds wäre der Gipfel in der Nacht auf Montag aber dann noch fast gescheitert. In der von Deutschland vorgeschlagenen Variante wäre dieser nämlich einem völligen Souveränitätsverlust der Griechen gleichkommen: Das eigene Staatsvermögen unter fremde Kontrolle zu stellen, hätte wohl kein EU-Staat in dieser Form akzeptiert. “Ein Souveränitätsverlust bedeutet immer auch einen Verlust nationalen Stolzes”, wies EU-Parlamentspräsident Martin Schulz den Vorschlag als unannehmbar zurück. Zudem hielten nicht nur griechische Finanzexperten die zu erzielende Summe von 50 Mrd. Euro für völlig überhöht.

Die totale “Unterwerfung”

Für den griechischen Premier Alexis Tsipras war diese Forderung also ebenso unannehmbar wie die Drohung eines “Grexits auf Zeit”. Das wussten wohl auch die Deutschen, forderten aber dennoch die totale “Unterwerfung”, wie es der frühere grüne EU-Abgeordnete Johannes Voggenhuber in einer ORF-Sendung ausdrückte.

“Tsipras stand mit dem Rücken zur Wand”

Von einem “deutschen Europa” und Auswirkungen wie nach dem Versailler Vertrag auf das Deutsche Reich nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg ist die Rede. Dem griechischen Premier blieb wohl einfach keine Wahl. “Tsipras stand mit dem Rücken zur Wand”, sagt ein Diplomat. “Er konnte nur akzeptieren oder sein Land in einen Bürgerkrieg stürzen.”

Zu desaströs ist die Lage in seiner Heimat nach dem Referendum: Die Banken geschlossen, die Wirtschaft stürzt ab, viele Menschen kommen nicht an ihr Geld. Nur deshalb war der Linkspolitiker wohl bereit, solch ein harsches Abkommen mit drakonischen Auflagen zu schlucken. Das war der Preis dafür, dass Athen das Vertrauen der Euro-Chefs durch viele gebrochene Versprechen schwer erschüttert hat.

Die eigentlichen Verhandlungen können beginnen

Doch Tsipras will kein Opfer sein. “Wir haben einen gerechten Kampf geführt”, lässt er nach 17 dramatischen Verhandlungsstunden mit den Staats- und Regierungschefs der anderen 18 Euroländer wissen. Er sagt zu dem harten Spar- und Reformpaket: “Nai”. Ja. Gerettet. Vorerst. Denn jetzt gehen die eigentlichen Verhandlungen erst los. Die Eurogruppe beziffert den Finanzbedarf für Griechenland auf 82 bis 86 Milliarden Euro in den nächsten drei Jahren. “Um so viel Geld für ein Land ging es in der Eurozone noch nie”, stöhnt ein Diplomat.

In mehreren Ländern muss die Zustimmung der Parlamente eingeholt werden. Wie in Deutschland. Vor allem in Merkels Union ist der Unmut groß. Die Vertrauensfrage wird die Kanzlerin aber nicht bei der Sondersitzung des Bundestags stellen. Sie will keine zusätzliche Dramatik aufbauen. Lieber geht sie das Risiko ein, dass ihre eigenen Leute ihr in so großer Zahl wie noch nie die Gefolgschaft verweigern.

Zugeständnisse an Griechenland

Mit dem Zugeständnis einer griechischen Verwaltung und eines griechischen Sitzes für den Privatisierungsfonds kamen die Deutschen Athen dann doch noch einen kleinen Schritt entgegen. Auch, dass es für das Erreichen der 50 Mrd. Euro Marke kein Zeitlimit gibt, ist als Entgegenkommen zu werten.

“Eine Demütigung”: Linker Flügel ruft zum Protest auf

Innenpolitisch wird Tsipras aber dennoch große Probleme bekommen. Wenn nicht schon bei der Abstimmung über die Gipfel-Schlusserklärungen und der Verabschiedung erster “Sofortmaßnahmen”, wie einer Mehrwertsteuererhöhung oder automatischer Ausgabenkürzungen, am Mittwoch, dann wohl wenig später. Bereits jetzt äußerten sich zahlreiche Abgeordnete seiner Syriza-Partei mehr als skeptisch – die Parlamentsmehrheit des Linkspopulisten wackelt jedenfalls recht heftig.

“Nach 17-stündigen Verhandlungen haben die Staats- und Regierungschefs der Euro-Zone eine Vereinbarung geschlossen, die Griechenland und die Griechen demütigt”, erklärte der linke Flügel der Syriza-Partei Tsipras’ auf ihrer Internetseite und rief offen zum Protest gegen diese “Demütigung” auf.

“Das griechische Volk darf sich dadurch nicht entmutigen lassen, im Gegenteil: Es muss hartnäckig bleiben, wie es das im Referendum und den landesweiten Protesten für ein ‘Nein’ bis ganz zum Ende war.” Gegner der Einigung von Brüssel haben für den Abend zu einer Demonstration im Zentrum Athens aufgerufen.

Es handle sich um ein Rettungspaket mit noch härteren Konditionen als seine Vorgänger, das die Troika wieder etabliere und Griechenland dazu verdamme, “eine Schuldenkolonie” unter der Aufsicht einer von Deutschland geführten EU zu bleiben, kritisierte der radikale Flügel des Linksbündnisses.

#thisisacoup: Der Putschist Deutschland

Darin waren sich in der Nacht auf Sonntag auch hunderttausende Twitter-User in ganz Europa einig. Der Hashtag #thisisacoup (Das ist ein Staatsstreich), war Montagfrüh der meistgeteilte in Europa. Und der Putschist? Deutschland.

Die griechische Handschrift im dritten Hilfspaket

Aber was ist denn nun die griechische Handschrift in diesem dritten Hilfspaket? Merkel antwortet: Der “hohe Finanzmittelbedarf” – damit meint sie das Rettungspaket von mehr als 80 Milliarden Euro. Und sie verweist auf den Kompromiss, dass aus dem Privatisierungsfonds nicht die gesamten geplanten 50 Milliarden Euro zur Schuldenrückzahlung verwendet werden, sondern 12,5 Milliarden Euro für Investitionen.

Hier setzte sich Tsipras durch, es war seine rote Linie, sein “No- Go”. Deutschland forderte, die gesamten Erlöse zur Schuldentilgung zu nutzen. Doch mit einem geschickten Schachzug sicherte Tsipras Griechenland Investitionen und damit neue wirtschaftliche Perspektiven. “Er hat eine politische Kehrtwende vom strikt linken zu einem sozialdemokratischen Politiker vollzogen”, sagt ein EU-Diplomat. “Jetzt kommen die Investoren nach Griechenland zurück.”

Und wie ist es um die deutsch-französische Achse bestellt? Merkel sieht sie nicht beschädigt. Immer wieder stimmte sie sich eng mit Staatspräsident François Hollande ab. Er sagte: “Was ich wollte, war mehr als das Interesse Griechenlands, es war das Interesse Europas.” Das unterschreibt Merkel sofort. Und sie sagt: “Ich glaube, dass Griechenland auf den Wachstumpfad zurückkehren kann.” Aber der Weg werde lang und mühsam sein. Das habe diese Nacht von Brüssel gezeigt, in der sie genauso lange verhandelt habe wie im Frühjahr mit Hollande in Minsk über das Friedensabkommen für die Ukraine. (red/APA/dpa)

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