Wenn sich am 16. Juli 2025 die Tore des Festspielhauses in Bregenz öffnen, entbrennt mit George Enescus einziger Oper Œdipe ein szenisches Epos, das die Urkräfte des Mythos mit der Wucht menschlicher Schuld und Erlösung verbindet. Hinter dem Untertitel „Märchenhafte Urbilder und moderne Klangsprache“ verbirgt sich ein Konzept von Regisseur Andreas Kriegenburg, Bühnenbildner Harald B. Thor und Kostümbildnerin Tanja Hofmann, das in vier eigenständige Bilder gegossen wurde, wobei jedem dieser Episoden ein Ur-element als Leitmotiv zugrunde liegt: Feuer, Wasser, Luft und Erde.
Loderndes Rot des Feuers
Im Kern aller griechischen Tragödien stehen gute Menschen, die durch eine heftige Wendung des Schicksals ins Verderben gerissen werden und uns doch eine tiefe kathartische Reinigung bescheren. Enescu und sein Librettist Edmond Fleg übertragen dieses Prinzip auf ein Musikdrama, das mit dem ersten Akt im lodernden Rot des Feuers beginnt. In einem pompös-düsteren Thronsaal verkündet der blinde Seher Tirésias die verhängnisvolle Prophezeiung, dass der neugeborene Ödipus seinen Vater töten und seine Mutter heiraten werde. Aus Angst übergeben König Laios und Königin Jokaste ihr Kind einem Hirten, um es aussetzen zu lassen – doch Mitleid siegt und Ödipus findet ein zweites Zuhause bei einem kinderlosen Kronpaar.
Zwei Jahrzehnte später wandelt sich die Bühne zu einem kühlen Reigen aus Wasser und Nebel: Blau-weiße Stoffbahnen und schillernde Lichteffekte umspielen den Mann, der aus dem Orakel von Delphi steigt und unwissentlich seinen Vater Laïos tötet, als er ihm auf einer Stichstraße in Notwehr begegnet. Kaum hat Ödipus der Sphinx das Rätsel entrissen und Theben befreit, wird er zum König und unwissentlich zum Ehemann seiner leiblichen Mutter erhoben. Ein Altsaxofon und sogar eine singende Säge verleihen dieser Szene unheimliche Farbtupfer, kündigen das drohende Unheil an und machen die orchestrale Klangsprache über-
raschend modern.
Mythische Zeitlosigkeit
Im dritten Akt wird ein unheilvolles Spiel mit Luft und Krankheit inszeniert: Eine Seuche rafft die Stadt dahin und Tirésias offenbart, dass nur die Aufdeckung des Königmords diese Plage beenden kann. Wie ein unbestechlicher Richter lässt Ödipus Zeugen rufen, während sich der Chor in neun Stimmen aufsplittert und ein Netz aus Schuld und Erinnerung spinnt. Die Bühne ist mit verkohltem Holz übersät – ein stummer Zeuge moralischer Verbrennung –, bis Ödipus selber erkennt, dass er Opfer und Täter in einer Person ist. In einem Schockmoment sticht er sich mit Jocastes Brosche die Augen aus, während die Königin sich das Leben nimmt.
Der letzte, vierte Akt schließlich führt an das Ufer der Erde und der Erlösung: Auf einer Lichtung aus naturbelassenen Brettern, umrahmt von zarten Laubkronen, empfängt Theseus den geblendeten König und seine Tochter Antigone. Wo zuvor Schatten und Verzweiflung herrschten, kehrt nun ein mildes Licht ein. Die Götter der griechischen Mythologie begnadigen die Sterbenden. In dieser finalen Stätte der Stille findet Ödipus seine letzte Ruhe – und wir als Zuschauer erfahren die Reinigung, die nur eine wahre Tragödie schenken kann.
Andreas Kriegenburgs Konzept verzichtet bewusst auf eine historische Verortung. Stattdessen entfaltet er Ödipus in einer mythischen Zeitlosigkeit, in der Gesang und Bewegungen urtümliche Rituale anklingen lassen. Harald B. Thor beschwört mit archaischem Holz, Ton und groben Stoffen eine Bühne als Urlandschaft, die immer wieder durch die bloße Haut der Sängerinnen und Sänger kontrastiert wird. Tanja Hofmanns Kostüme greifen diese Reduktion auf: raues Leinen, unversiegeltes Leder und punktuelle Farben betonen den archetypischen Charakter der Protagonisten.
Eine Reise in Abgründe
Musikalisch wird das Festspielorchester von Hannu Lintu geleitet, dessen feines Gespür für Klangfarben und dramatische Nuancen ihn zum idealen Deuter von Enescus opulentem Klangkosmos macht. Unter Lintus Stabführung verschmelzen französischer Impressionismus, Wagner’sche Leitmotivtechnik und rumänische Folklore zu einem Hörerlebnis. „Œdipe“ von Enescu überrascht nicht nur durch seine monumentale Erzählung, sondern auch durch eine Fülle exzentrischer Klangfarbtupfer, die das Hörerlebnis unvergesslich machen. So erklingt in spannungsgeladenen Momenten eine Peitsche, deren scharfer Schlag das Drama akustisch akzentuiert. Ein Altsaxofon, das für die Opernbühne eher unüblich ist, mischt sich in die orchestralen Zwischenspiele und verleiht den Übergängen eine raue, zugleich sinnliche Note. Das tiefe Fagott wiederum übernimmt die unheilvolle Rahmung mancher Szenen und legt wie einen dunklen Schleier über das Geschehen. Als vielleicht kühnster Einfall ertönt die singende Säge: Ein langes, zahnloses Sägeblatt wird mit einem Kontrabassbogen gestrichen und erzeugt bei der Enthüllung der Sphinx eine gespens-tische, schwebende Klangwelt. All diese Kuriositäten fügen sich in Enescus Partitur zu einem kaleidoskopischen Klangbild, das man so schnell nicht vergisst.
In der Titelpartie stellt sich der französische Bariton Paul Gay der Herausforderung, einen Ödipus zu verkörpern, der innerlich zerrissen, von Stolz erfüllt und zugleich von Schuld geplagt ist. An seiner Seite sorgen Ante Jerkunica als Tirésias, Tuomas Pursio als Créon, Mihails Čuļpajevs als Le Berger, Nika Guliashvili als Le Grand Prêtre, Vazgen Gazaryan in der Doppelrolle Phorbas/Le Veilleur sowie Nikita Ivasechko als Thésée, Michael Heim als Laïos, Marina Prudenskaya als Jocaste, Anna Danik als Sphinx, Iris Candelaria als Antigone und Tone Kummervold als Mérope für ein Ensemble, das jeden Moment seines Schicksals mit uns teilen wird.
„Œdipe“ ist keine seichte Sommerunterhaltung, sondern eine Reise in die Abgründe menschlicher Größe und Zerbrechlichkeit. Anhand eines Urbilds, das die klassischen Griechen bereits als Warnung vor Übermut und Hybris inszenierten, erreichen wir heute wieder jene kathartische Erfahrung von Mitleid und Furcht, die uns zu besseren Menschen macht. In Bregenz wird diese urtümliche Wucht erstmals in einer zeitgenössischen Bilderwelt hör- und erfahrbar – ein Opernfest, das man sich nicht entgehen lassen sollte.
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