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Das ist der "Masterplan Allgemeinmedizin" der Ärztekammer

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Die Entwicklung der Primärversorgung in Vorarlberg ist alarmierend.
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Immer weniger junge Ärztinnen und Ärzte entscheiden sich für die Allgemeinmedizin, gleichzeitig stehen zwei Drittel der AllgemeinärztInnen in Vorarlberg in den nächsten Jahren vor der Pensionierung. Dazu kommen grundlegende gesellschaftliche Veränderungen, eine stetig wachsende Bevölkerung und neue medizinische Angebote. Die Allgemeinmediziner in Vorarlberg fordern daher eine Neuausrichtung der Primärversorgung entsprechend dem Masterplan für Allgemein- und Familienmedizin.

Vor allem soll das Berufsbild des Hausarztes durch die Einführung eines eigenen Facharztes für Allgemein- und Familienmedizin aufgewertet und anderen EU-Ländern angeglichen werden, erklären Burkhard Walla, Kurienobmann der niedergelassenen Ärzte und Thomas Jungblut, Präsident der Vorarlberger Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (VGAM).

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Neue Kassenstellen geschaffen

Was in anderen EU-Ländern seit Jahren selbstverständlich ist, lässt in Österreich noch lange auf sich warten. Unser traditionelles Hausarztsystem ist weit entfernt von einer zeitgemäßen Primärversorgung, es entspricht weder den veränderten Bedürfnissen der Patienten noch den Vorstellungen der Medizin-Absolventen, kritisiert Thomas Jungblut, der am Masterplan „Allgemein- und Familienmedizin“ mitgearbeitet hat.

Die Zahlen in Vorarlberg sprechen für sich: Von den 168 KassenärztInnen für Allgemeinmedizin, die in Vorarlberg tätig sind, können 114 Ärztinnen und Ärzte – das sind mehr als zwei Drittel – in den nächsten zehn Jahren in Pension gehen, berichtet Ärztekammer-Vizepräsident Burkhard Walla. Positiv wertet Walla die Tatsache, dass es mit gemeinsamen Maßnahmen gelungen ist, in den letzten Jahren in Vorarlberg einige neue Kassenstellen zu schaffen und auch wieder Bewerber für Kassenstellen zu finden. Die Ansprüche an die Ärzte sind jedoch weit stärker gestiegen, betont Walla.

Anteil älterer Menschen ist gewachsen

Die Bevölkerung in Vorarlberg ist in den letzten 10 Jahren von 370.000 auf über 400.000 Einwohner angestiegen, wobei vor allem der Anteil der älteren Menschen im Land deutlich gewachsen ist, während sich die Altersgruppen vom Baby bis zu 45 Jahren in Vorarlberg rückläufig entwickeln.

Entwicklung Patientenzahl pro Allgemeinmediziner mit Kassenvertrag
Entwicklung Patientenzahl pro Allgemeinmediziner mit Kassenvertrag

Für die Allgemeinmedizin bedeutet dies, dass mit dem Alter der Patienten auch die Anzahl der Diagnosen deutlich ansteigt, außerdem sind die therapeutischen und diagnostischen Möglichkeiten dank dem medizinischen Fortschritt weit größer geworden. Thomas Jungblut fasst die Folgen dieser Entwicklung in Vorarlberg zusammen: „Die Fallzahlen sind gestiegen, auch die Komplexität der Fälle hat stark zugenommen. Nur die Zahl der Allgemeinmediziner in Vorarlberg ist im Vergleich dazu zurückgeblieben.“

Patienten erwarten Beratung in allen Lebenslagen

Auch das Verhalten der Patienten hat sich in den letzten Jahren gewandelt, beschreibt Allgemeinärztin Gabriele Gort das wachsende Anspruchsdenken: „Viele Patienten kommen sehr gut informiert und erwarten eine hohe Effizienz vom Hausarzt: Gleich mehrere Krankheiten und Probleme sollen in kurzer Zeit gelöst werden.“ Allgemeinmediziner werden zunehmend mit komplexeren Krankheiten konfrontiert, sind Dreh- und Angelpunkt für den Austausch mit Fachärzten und sollten viel Zeit für ihre Patienten aufbringen können. Einerseits wird damit gerechnet, dass Allgemeinmediziner schnell erreichbar sind und rasch Hilfe leisten, andererseits erwarten sich die Patienten Zeit für individuelle Gespräche, berichtet Gabriele Gort aus ihren Erfahrungen: „Der Allgemeinmediziner wird immer mehr zum komplexen Lebensberater, den die Menschen in allen Lebenslagen aufsuchen.“

Allgemein- und Familienmedizin ist Beziehungsmedizin

Der Zusatz „Familienmedizin“ beschreibt eine besondere Qualität, die vor allem der Hausarzt erfüllen kann. Oft kennen Hausärzte die ganze Familie, wissen um genetische Erkrankungen und familiäre Situationen. Durch die kontinuierliche Betreuung entsteht Vertrauen, was für die Patienten in Krisensituationen enorm wichtig ist, erklärt Allgemeinmediziner Markus Baldessari. „Gerade bei ernsthaften Erkrankungen wollen sich die Patienten nicht damit begnügen, eine Art ausgewiesenen Ingenieur für den Menschen als Arzt zu haben, bei dem alle Zahlen stimmen. Vielmehr wollen sie nicht nur einen Könner, sondern eine Persönlichkeit, bei der sie sich menschlich auch aufgehoben fühlen.“ Nur – das erfordert Zeit, die im momentanen Kassensystem pro Patient limitiert ist. Baldessari ist daher überzeugt, dass der Faktor „zu wenig Zeit für den Patienten“ für viele Jungärzte ein wichtiger Grund ist, sich nicht für eine Kassenstelle für Allgemein- und Familienmedizin zu entscheiden.

Potentielle Bewerber aus den Einreichungen
Potentielle Bewerber aus den Einreichungen "Jus Practicandi"

Masterplan für vernetzte Neuausrichtung der Allgemein- und Familienmedizin

Die schwierige Situation der Primärversorgung und ihre unterschiedlichen Ursachen sind zwar bekannt, bisherige Strategien den Allgemeinarzt aufzuwerten waren bis heute jedoch unzureichend. Die Allgemeinmediziner in Österreich haben daher eine einzigartige Initiative gesetzt und in einjähriger Arbeit einen Masterplan für die Allgemein- und Familienmedizin in Österreich erstellt. Miteingebunden war neben den Ärzten und den Ärztekammern auch die universitäre Allgemeinmedizin. Susanne Rabady, ebenso wie Thomas Jungblut Allgemeinmedizinerin und Vizepräsidentin der österreichischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (ÖGAM), betont, dass mit dem Masterplan ein umfassendes Paket an vernetzten Maßnahmen vorliegt. Damit sollen der Beruf des Hausarztes sowie die Allgemein- und Familienmedizin wieder attraktiver gemacht werden. Susanne Rabady: „Eine hochwertige und flächendeckende Primärversorgung ist nur mit einer ausreichenden Zahl hoch qualifizierter und motivierter Allgemein- und Familienärzte möglich.“

Facharzt für Allgemein- und Familienmedizin

Auffallend ist das große Interesse von Medizinstudenten und Jungärzten an den Inhalten der Allgemeinmedizin. Es ist nachgewiesen, dass die Idee Hausarzt zu werden für Medizinabsolventen sehr attraktiv ist, nur die Rahmenbedingungen sind es noch nicht. Der Masterplan zeigt auf, dass die Einführung einer eigenen Fachausbildung eine wesentliche Voraussetzung für eine Aufwertung der Allgemein- und Familienmedizin bedeutet. Im Gegensatz zu fast allen anderen europäischen Ländern ist es in Österreich bislang nicht gelungen, den Facharztstatus für Allgemein- und Familienmedizin zu etablieren. „Momentan konzentriert sich die Lehre der spezialisierten Universitätsmedizin eher auf oft unzusammenhängendes Spezialwissen, das in der primären und auch fächerübergreifenden „Basismedizin“ nicht angewendet werden kann.“ Thomas Jungblut betont, dass es beim Facharzt für Allgemein- und Familienmedizin neben einer breiten allgemeinmedizinischen Arbeitsweise auch um die Vermittlung der sogenannten „Soft Skills“ geht – und dazu gehören Empathie, Patientenorientierung, interkulturelle Kommunikation, Gesundheitsmedizin und die Freude an einem Beruf, in dem Menschen im Mittelpunkt stehen.

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