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"Krieg gegen Unschuldige"

Welche perversen Ziele die Hintermänner des Anschlags auf die Moskauer U-Bahn mit 39 Toten auch immer hatten, eines haben sie erreicht: Viele Moskauer haben seit Freitag Angst.

Angst, auf die Straßen zu gehen, sich in größeren Gruppen aufzuhalten und vor allem Metro zu fahren. „Das ist doch wie Krieg gegen Unschuldige, Frauen und Kinder“, bricht es aus der Moskauerin Sina unter Tränen heraus. Tod und Terror in der U-Bahn ist wie ein Stich in das Herz der Metropole.

Gespenstisch leer wirkt die U-Bahn-Station „Awtosawodskaja“ in den Morgenstunden. Von dort aus fuhr die U-Bahn der grünen Linie mit 1.500 Passagieren in das Verderben. Vermutlich eine Selbstmordattentäterin zündete im Tunnel eine kiloschwere Bombe. Der Waggon und die meisten Menschen in ihm wurden in Stücke gerissen. Mehr als 130 Fahrgäste erlitten zum Teil schwerste Verletzungen.

Eine schnelle Rolltreppe führt hinab zu den Bahnsteigen. Unbewusst wie beim Betreten einer Kirche rückt mancher Fahrgast auf den Stufen seinen Mantelkragen gerade. Unten erstreckt sich die riesige, in Marmor getäfelte Halle in sakraler Weite. An mehreren Stellen auf dem Bahnsteig liegen Blumen.

Aus beinahe jedem der einfahrenden Züge, die selbst am Wochenende im Zwei-Minuten-Takt aufeinander folgen, steigen Menschen mit Nelken oder Rosen aus. Meist sind es Ehepaare oder zwei Frauen, die zum stillen Gedenken an die Terroropfer gekommen sind. Untergehakt gehen die Trauernden zur Bahnsteigmitte und legen ihre Blumen zu den anderen.

Neben einer wuchtigen Säule erinnert ein eingerahmter, offener Brief an „Swetlana, Serjoscha, Mascha und Natascha“. „In unserer Erinnerung werdet ihr für immer mit einem Lächeln bleiben“, steht mit Kugelschreiber geschrieben auf dem Papier.

In der Eingangshalle oberhalb der Gleise ringt die Brillenverkäuferin Lena mit der Erinnerung an das Geschehene. „Erst hörten wir einen fernen Knall und das Splittern von Glas“, erzählt die Frau mit ukrainischem Akzent. „Später kamen die Menschen aus dem Tunnel, leichenblass. Niemand sagte ein Wort.“

Für die etwa 40 Jahre alte Verkäuferin steht fest, wer hinter der Bluttat steht. „Das war das Werk von Tschetschenen“, behauptet Lena. Im Vorjahr waren 19 Moskauer bei Selbstmordanschlägen auf einem Rockkonzert sowie neben der Staatsduma getötet worden. Doch bis heute haben Polizei und Geheimdienst keine handfesten Beweise dafür erbringen können, dass der berüchtigte Schamil Bassajew hinter dem Terror steht.

Der Rebellenführer Bassajew hält sich in den Bergen des Nordkaukasus versteckt. Vor Jahren kündigte der Islamist an, er werde seine „Schwarzen Witwen“ mit Sprengstoffgürteln am Leib in die russischen Städte schicken und Rache nehmen für den Krieg in Tschetschenien. Auch bei der Geiselnahme im Moskauer Musicaltheater Nordost vor 15 Monaten waren zahlreiche schwarz verhüllte Tschetscheninnen unter den Terroristen.

Die Staatsmacht bemüht sich, zumindest den Eindruck von Sicherheit zu vermitteln. In jeder Station stehen Polizisten mit Spürhunden. Junge Soldaten, mit Schlagstock und roter „Patrouille“-Armbinde ausgerüstet, fahren gleich im Dutzend mit. Zwischen den Stationen „Awtosawodskaja“ und „Pawelezkaja“, wo die Bombe detonierte, erstirbt im Waggon jedes Gespräch.

„Wie im Wahn mustere ich jeden, der an einer Station zusteigt“, sagt die Lebensmitteltechnikerin Galja später. Jeder Rucksack oder Aktenkoffer wirke verdächtig. So schlimm wie jetzt sei es nur nach den Bombenanschlägen auf zwei Moskauer Mietshäuser im Herbst 1999 gewesen, deren Hintermänner bis heute nicht gefasst sind. Mehr als 230 Menschen starben damals in den Trümmern.

Mit Schweißausbrüchen und rasendem Herzen habe sie den U-Bahnhof betreten, berichtet die junge Frau. Am liebsten würde sie nicht mehr in die tiefen Metroschächte hinabfahren. „Aber mir bleibt keine andere Wahl, ich muss zur Arbeit“, sagt sie kurz vor dem Aussteigen.

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