Komponistin Unsuk Chin: "Musik kann niemals rational sein"
Anlässlich der Premiere sprach die Wahlberlinerin und Ligeti-Schülerin Unsuk Chin mit der APA über die Höllenfahrt des Opernschreibens, wachsende Diversität im Opernbetrieb und den Umstand, dass man das Wort "Herz" nicht sagen darf.
APA: "Alice in Wonderland" ist ja ein beinahe altes Stück in Ihrem Oeuvre. Wie geht es Ihnen damit, sich einem Werk aus der Vergangenheit wieder zu nähern?
Unsuk Chin: Ich finde das eigentlich sehr schön, weitere Aufführungen mit einer Oper zu haben, die mittlerweile 18 Jahre alt ist. Bei der Uraufführung war das Feedback noch nicht so positiv und die Musik ist am Anfang auf viel Ablehnungen gestoßen. Aber der Opernbetrieb läuft sehr langsam. Und nach vier, fünf verschiedenen Produktionen freue ich mich sehr, dass sie jetzt in Wien, in so einem traditionsreichen Haus angekommen ist - nach nur 18 Jahren. (lacht)
APA: Haben Sie selbst eine Erklärung, weshalb sich "Alice" doch noch zu einem Erfolgsstück entwickelt hat, während so viele neue Werke über die Uraufführung nicht hinauskommen?
Chin: Dafür gibt es sicherlich viele verschiedene Gründe. Zum einen bin ich nicht mehr so jung und komme in ein Alter, in dem es langsam anfängt, dass man Anerkennung bekommt. Außerdem werden im klassischen Musikbetrieb, der lange sehr konservativ und verschlossen war, langsam die Türen geöffnet, auch für Außenseiterinnen wie mich. Das Bewusstsein für Diversität wächst. Und natürlich hoffe ich auch, dass es noch den einen oder anderen musikalischen Grund gibt. (lacht)
APA: Dabei sticht die "Alice" stilistisch aus Ihrem Oeuvre heraus. Was hat Sie damals bewogen, mit musikalischen Zitaten zu arbeiten?
Chin: Ich habe die musikalische Sprache damals bewusst wegen der Geschichte gewählt. Noch vor 20 Jahren war es in Europa sehr streng, was die Avantgardemusik sein darf und kann und was nicht. Und ich habe in diesem Stück sehr viele verschiedene Materialien verwendet, die in der Neuen Musik vorkommen - von Geräusch bis Dreiklang. Aber ja, ich verwende bewusst auch tonale Stile.
APA: Sie haben sich ja nie einer der Schulen der Neuen Musik zugeordnet. War das eine bewusste Entscheidung oder hat sich schlicht aus Ihrem inneren Antrieb zur Musik ergeben?
Chin: Ich habe, als ich nach Europa kam, anfangs Musik in der Tradition der Darmstädter Avantgarde geschrieben und fand das auch sehr faszinierend, weil es sehr neu war. Aber letztlich wusste ich ganz genau, dass das nicht das ist, was ich wirklich möchte. Aber das hat lange gedauert. Ich habe versucht, vieles von allen möglichen Richtungen aufzunehmen, aber trotzdem das zu schreiben, was mir am Herzen liegt. Oh - das Wort "Herz" darf man ja nicht sagen, wenn man über Neue Musik spricht. (lacht)
APA: Dabei spielt in Ihrer Musik die Emotion eine zentrale Rolle ...
Chin: Über Neue Musik wird oft sehr rational gesprochen, dabei kann Musik niemals rational und emotionslos sein. Dabei meine ich mit Emotion kein billiges Gefühl.
APA: Hat Sie dieser Aspekt an der Vorlage von Lewis Carroll gereizt? Oder eher die intellektuelle Lesart?
Chin: Die "Alice in Wonderland" lesen Kinder als Kindergeschichte. Wenn ein Intellektueller das liest, ist es eine intellektuelle Geschichte. Und wenn ein Mathematiker es liest, ist das Werk voller Mathematik, Psychologie und Bezügen. Diese verschiedenen Schichten wollte ich auch in der Musik widerspiegeln. Wenn man die reine Ebene der Noten betrachtet, ist sie oberflächlich sehr einfach. Aber wenn man sie hört, dann verstecken sich viele Komplexitäten unter dieser schlichten Oberfläche.
APA: Wie geht es Ihnen mit der szenischen Umsetzung Ihrer Werke? Möchten Sie sich da am liebsten einmischen, oder können Sie Ihr Baby ziehen lassen?
Chin: Mittlerweile kann ich zu Inszenierungen innerlich sehr auf Distanz gehen. Anfangs war das nicht einfach, eine Inszenierung zu sehen, die gegen meine Intentionen oder Vorstellungen geht. Ich habe mittlerweile aber gelernt, die Regisseure arbeiten zu lassen. Ich finde es mittlerweile sehr schön, weil ich so Dinge erfahre, die ich bis dato noch nicht wusste. Was meine Rolle betrifft, konzentriere ich mich voll und ganz auf die musikalische Seite.
APA: Hier loszulassen, fällt Ihnen schwerer?
Chin: Bei der Musik kann ich niemals darüber hinwegsehen, wenn etwas nicht richtig ist! Vor allem ist für mich wichtig, dass die Musik einen natürlichen Fluss hat.
APA: Obgleich sich die "Alice" nach der Uraufführung 2007 relativ schnell zu einem Erfolg entwickelt hat, hat es dennoch bis heuer gedauert, dass Sie Ihre zweite Oper vorgelegt haben, "Die dunkle Seite des Mondes", die in Hamburg Weltpremiere feierte. Weshalb diese lange Pause?
Chin: Es gab dazwischen zwar verschiedene Angebote und Gelegenheiten, aber wenn man eine Oper schreiben will, muss man sich ihr mehrere Jahre widmen. Deshalb möchte ich nur das machen, was mich wirklich berührt. Ansonsten könnte ich diese Höllenfahrt gar nicht antreten! Bei "Die dunkle Seite des Mondes" hatte ich dann letztlich nur 20 Monate Zeit für eine dreistündige Oper - und zwar für Text und Musik. Das war eine Dimension von Stress, wie ich sie in meinem ganzen Leben noch nicht hatte. Das war jenseitig! Aber am Ende hat es geklappt. Aber ob ich das in meinem Leben noch mal überstehen würde, weiß ich nicht.
APA: Eine andere Form des Stresses ist ja, sich nach einer Premiere mit der Reaktion von Publikum und Kritik auseinandersetzen zu müssen. Wie gehen Sie damit um?
Chin: Das ist immer unterschiedlich. Bei "Alice" gab es bei der Uraufführung unglaublich viele Buhs und schlechte Kritiken. Das war nicht einfach, weil man ja so tief in einem Projekt drin ist. Und letztlich gebe ich ja alles, was ich kann. Bessere Stücke kann ich nicht schreiben. Aber die unmittelbare Reaktion vom unvoreingenommenen Publikum ist wichtig, weil die Zuschauer einen sehr natürlichen Zugang haben. Das ist bei Kritikern oft anders. Auch schlechte Kritiken sollten gut sein - im Sinne von fundiert. Das ist aber meistens nicht so. Und damit leben zu müssen, ist nicht einfach. Aber es ist halt so.
(Das Gespräch führte Martin Fichter-Wöß/APA)
(S E R V I C E - "Alice in Wonderland" von Unsuk Chin im Musiktheater an der Wien, Linke Wienzeile 6, 1060 Wien. Musikalische Leitung des RSO: Stephan Zilias, Inszenierung: Elisabeth Stöppler, Bühne: Valentin Köhler, Kostüm: Su Sigmund. Mit Alice - Álfheiður Erla Guðmundsdóttir, Weißes Kaninchen/Märzhase/Dachs - Andrew Watts, Maus/Pat/Haselmaus/Köchin/Unsichtbarer Mann - Marcel Beekman, Herzogin/Eule - Helena Rasker, Grinsekatze - Juliana Zara, Herzkönigin - Mandy Fredrich, Verrückter Hutmacher/Ente - Ben McAteer, Alter Mann I/Junger Adler/Fisch-Lakai/Falsche Suppenschildkröte/Herzbube - Henry Neill, Alter Mann II/Hummer/Frosch-Lakai/Herzkönig - Levente Páll, Dodo/Sieben/Scharfrichter - Damien Pass. Premiere am 17. November. Weitere Aufführungen am 19., 22., 24. und 26. November. )
(APA)
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