AA

Internationale Pressestimmen zu den Protesten in der Türkei

Die Anti-Regierungs-Proteste in der Türkei beschäftigen die internationalen Tageszeitungen.
Die Anti-Regierungs-Proteste in der Türkei beschäftigen die internationalen Tageszeitungen. ©AP
Die Anti-Regierungs-Proteste in der Türkei beschäftigen auch am Mittwoch die internationalen Tageszeitungen.

“Stuttgarter Zeitung”:

“Offensichtlich hat der mächtigste Mann der Republik nicht erkannt, dass er sich an einer der wichtigsten Wegmarken seiner Herrschaft befindet. Immer mehr Menschen sind mit dem Regierungsstil des Premiers nicht mehr einverstanden. Erdogan ist zwar von der Mehrheit der Türken gewählt worden, das heißt aber nicht, dass er nun dem ganzen Land seine Sicht der Dinge aufzwingen darf. Erdogan handelt wie die Regierungschefs vor ihm, die das Land als ihren Besitz angesehen und auch so verwaltet haben. Die Proteste und die Reaktion vieler Türken darauf zeigen aber, dass die Gesellschaft des Landes in Sachen Demokratie weiter ist als die Regierenden.”

“Nürnberger Nachrichten”:

“Ausgerechnet am Tag vor Gesprächen zwischen der Protestbewegung und dem Premier die Polizei auf den Istanbuler Taksim-Platz vorrücken zu lassen, das bedeutet, eine große Chance für eine Entspannung der Lage zu vergeben. Regierungschef Erdogan hat damit viel von seiner Glaubwürdigkeit im Umgang mit der Protestbewegung verspielt. Das ist nicht nur schlecht für die Türkei, sondern auch für ihr Verhältnis zu Europa.”

“De Telegraaf” (Amsterdam):

“Schon seit Wochen fordern die türkischen Demonstranten massiv, dass Ministerpräsident Erdogan zurücktritt. Das sollte er nicht tun, und es wird bis auf Weiteres auch nicht geschehen. Aber die zahlreichen Proteste sowie die harte Art und Weise, in der Erdogan gegen die Demonstranten vorgeht, könnten seiner politischen Karriere Schaden zufügen. Im kommenden Jahr stehen Kommunalwahlen sowie Präsidentenwahlen an, und möglicherweise gibt es auch noch eine Volksabstimmung. Politisch steht also viel auf dem Spiel. Und inzwischen ist klar geworden, dass die Türkei Erdogan nicht mehr zu Füßen liegt. Sein polarisierendes Vorgehen schreckt viele ab.”

“Tages-Anzeiger” (Zürich):

“Gewiss, unter den Demonstranten auf dem Taksim-Platz sind auch Mitläufer: ultralinke Gruppen, Vertreter der kemalistischen Opposition und die üblichen Betonnationalisten. Doch indem Erdogan in das alte Freund/Feind-Schema verfällt, alle Demonstranten in einen Topf wirft und ihnen eine Verschwörung gegen die Interessen der Türkei und einen Plan zur Schwächung des Landes unterstellt, setzt er seine politischen Errungenschaften aufs Spiel. Dass er auf Konfrontation setzt, ist allerdings nicht überraschend. Erdogan hat seinen Weg an die Macht gegen ein fast allgewaltiges Militär und ein korruptes kemalistisches Establishment erstreiten müssen. Das hat ihn hart, aber auch hochmütig und selbstgerecht werden lassen.”

“Berliner Zeitung”:

“Dank Erdogan gewinnen nun hierzulande jene Politiker wieder Auftrieb, die in der Türkei ein muslimisch-asiatisches und deshalb europauntaugliches Land sehen und ihr – dies kaschierend – eine privilegierte Partnerschaft anbieten. Die erstarkende Zivilgesellschaft aber, die sich dem Sultan von Ankara widersetzt, straft sie Lügen. Die Türkei ist nach diesen zwei Wochen jedenfalls eine andere geworden.”

“Frankfurter Rundschau”:

“Er stachelt seine religiöse Anhängerschaft mit Fehlinformationen auf und behauptet weiter stur, dass ausländische Kräfte hinter den Protesten stünden. Erdogan hat immer noch nicht verstanden, dass die Proteste sich gegen seine autoritäre Politik und die Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit richten. Die überwiegende Mehrheit der Demonstranten hat es satt, dass eine politische Strömung, sei sie kemalistisch, nationalistisch oder religiös konservativ, ihnen Weltbild und Lebensstil aufdrückt. Sie wollen eine neue demokratische Kultur. Polizeiaktionen wie am Dienstag führen dazu, dass der Konflikt weiter eskaliert. Um keine Bilder von einem türkischen Bürgerkrieg zu sehen, sollte sich Erdogan schleunigst besinnen.”

“De Morgen” (Brüssel):

“Dass Erdogan konservative Ideen hegt und pflegt ist nicht das Problem, sondern dass er diesen Konservatismus der gesamten Gesellschaft auferlegen will. Kein Alkohol nach zehn Uhr abends, eine untergeordnete Rolle für Frauen und keine Möglichkeiten, bei wichtigen politischen Entscheidungen zu widersprechen. Der gestrige Tag hat gezeigt, dass die Demonstranten den Gummigeschoßen und dem Pfefferspray von Erdogans Ordnungstruppen physisch nicht gewachsen sind. Er hat den Kampf um die Straße vorläufig gewonnen. Ob er jedoch damit die Dynamik in seinem Land blockieren kann, ist zu bezweifeln. Wer sich in einer modernen Türkei wie ein ‘grumpy old man’ verhält, bringt sich früher oder später selbst ins Abseits.”

“Nepszava” (Budapest):

“Erdogan steht vor einer völlig neuen Herausforderung. Wenn er mit Gewalt gegen die demonstrierenden Jugendlichen vorgeht, wird er sich früher oder später mit deren Eltern konfrontiert sehen. Wenn er hingegen ihren Forderungen nachgibt und aus dem Gezi-Park keine Shopping Mall macht, dann wird sein von Selbstbewusstsein strotzendes Image Schaden nehmen. Aus diesem Dilemma herauszukommen, wird für ihn schwierig werden. (…) Denn sein Ziel ist es, die Verfassung zu ändern und die Türkei zur Präsidialrepublik zu machen, mit ihm an der Spitze. (…) Um an der Macht zu bleiben, ist Erdogan zu allem fähig. Sein Sendungsbewusstsein, sein Populismus, sein aggressives Auftreten und die Kontrolle über die Medien reichen in dieser Kombination aus, um seine Macht für lange Jahre einzubetonieren.”

“Les Echos” (Paris):

“(Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip) Erdogan ist nicht mehr der politische Führer, der auf seine Vertrauten hört. Sogar Präsident Abdullah Gül, Mitglied der (Regierungspartei) AKP, hat ihm vergeblich nahegelegt, Zurückhaltung zu zeigen. Indem der Ministerpräsident jegliche Opposition hart unterdrückt, hat er nicht nur eine einfache Protestbewegung in eine politische Krise verwandelt, sondern auch einen wichtigen Teil seiner Ausstrahlung verloren. Das von ihm geprägte Modell der AKP, bei dem er versuchte zu beweisen, dass der Islam wie die europäische Christdemokratie mit der Demokratie vereinbar sei, ist der große Verlierer.”

La Croix” (Paris):

“Allerdings haben die Vergleiche zwischen den arabischen Länder, die sich ihrer Diktaturen entledigten, und der türkischen Situation zwei Phänomene vernachlässigt. Einerseits nimmt die (Regierungspartei) AKP seit zehn Jahren geräuschlos einen Rückbau der Laizität vor und gibt dem Islam eine immer privilegiertere Stellung, ohne jedoch den anderen Religionen in dem Land mehr Freiheit einzuräumen. Andererseits hat Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan seine Macht immer autoritärer und arroganter behauptet, in einer Tonlage, die sehr an die des russischen Präsidenten Wladimir Putin erinnert. Diese doppelte Entwicklung hat viele Türken dazu gebracht, in den größten Städten des Landes auf die Straße zu gehen, um ihre Verbundenheit mit der Trennung von Staat und Religion sowie ihre Verbundenheit mit der Demokratie (…) unter Beweis zu stellen.”

(APA)

  • VOL.AT
  • Politik
  • Internationale Pressestimmen zu den Protesten in der Türkei