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Stimmen aus der Bevölkerung und eine Expertin zur Arbeitsbelastung.
Stimmen aus der Bevölkerung und eine Expertin zur Arbeitsbelastung. ©VOL.AT/Emilia Waanders

"Führungsstil hat Einfluss auf die Gesundheit" – Warum Arbeit krank machen kann

Vorarlberg führt bei psychischen Langzeitkrankenständen. Stimmen aus dem Dornbirner Messepark und Arbeitspsychologin Veronika Pitschl zeigen, was dahintersteckt – und warum Arbeit krank machen kann.

Vorarlberg hat so viele psychisch bedingte Langzeit-Krankenstände wie kein anderes Bundesland, obwohl die durchschnittlichen Krankenstandstage unter dem Österreich-Schnitt liegen. Was steckt wirklich hinter den Ausfällen? VOL.AT hat sich im Dornbirner Messepark umgehört. Und Arbeitspsychologin Veronika Pitschl darüber, dass Führungskräfte wirklich krank machen können.

Video: Das sagen Vorarlberger

Krankenpflegerin Anna (38): Belastung durch Fachkräftemangel

Die 38-jährige Krankenpflegerin Anna Heinzle arbeitet Vollzeit – und spürt die Belastung deutlich. "Strenge Arbeitszeiten, viele Krankenstände von anderen Mitarbeitenden, kompensieren, schnell, effizient", zählt sie die Gründe auf. In ihrem Unternehmen seien Krankenstände ein großes Thema. Ihrer Einschätzung nach liege das auch daran, dass "Belastung und Lohn nicht immer miteinander übereinstimmen". Manche würden sich daher eher krankmelden, während andere – so wie sie selbst – die Ausfälle kompensieren. Sie sei nur selten im Krankenstand, sagt Heinzle, doch genau das spüre sie stark in ihrem Alltag.

Anna Heinzle fühlt sich als Krankenpflegerin auf Grund der vielen Krankenstände oft überfordert. ©VOL.AT/Emilia Waanders

Dominik (41) aus Hohenems: Work-Life-Balance das A und O

Dominik Wachtel (41) lebt seit fünf Jahren in Vorarlberg und arbeitet fast Vollzeit. Auch er kennt das Gefühl, dass es manchmal zu viel wird. In seinem Umfeld nehme er aktuell "ständig" viele Krankenstände wahr. Seiner Ansicht nach liegt das daran, dass neben Beruf und Familie kaum Zeit für Ausgleich bleibt.

Für Dominik Wachtel ist die Work-Life-Balance ein wichtiges Thema. ©VOL.AT/Emilia Waanders

"Wenn da keine Zeit ist für Yoga oder Dinge, die das Immunsystem stärken würden, dann ist man ständig krank", sagt er. Für sich selbst habe er einen Weg gefunden, besser auf die Balance zu achten: Wichtige Termine wie Yoga setze er fix und kompromisslos, egal, was beruflich anstehe.

Sarah (20) aus Dornbirn

Sarah (20) aus Dornbirn hat bereits ein Jahr Vollzeit gearbeitet. Sie erinnert sich daran, dass es schnell zu viel werden könne, wenn man nicht auf die mentale Gesundheit achte. Ihrer Meinung nach hängen die vielen Krankenstände, vor allem jene mit psychischem Hintergrund, mit Depressionen oder fehlender Erfüllung im Job zusammen. Auch ein schlechtes Arbeitsklima könne dazu beitragen. Dass die junge Generation weniger belastbar sei, glaubt sie nicht – vielmehr sieht sie die Ursachen in einer Zunahme psychischer Erkrankungen: "Faul ist es nicht, es hängt eher mit der Psyche zusammen."

Sarah glaubt nicht, dass die Menschen heutzutage weniger belastbar sind. ©VOL.AT/Emilia Waanders

Arbeitspsychologin: "Die Belastungen haben sich verändert"

Leitende Arbeitspsychologin Veronika Pitschl (Ameco) widerspricht der oft gehörten Behauptung, heute sei "niemand mehr belastbar". Die Menschen seien sehr wohl belastbar, sagt sie, "aber die Belastungen haben sich verändert". Objektive Stressoren wie Arbeitsverdichtung und Unsicherheit nähmen zu, dadurch würden Grenzen sichtbarer. "Das Ergebnis ist nicht ein schwächeres Individuum, sondern ein komplexes Zusammenspiel von Arbeitsbedingungen und Ressourcen."

Video: Expertin im VOL.AT-Interview

Langzeitkrankenstände in Vorarlberg am höchsten

Mit Blick auf aktuelle Fehlzeiten verweist Pitschl auf Zahlen: In Vorarlberg liegen die durchschnittlichen Krankenstandstage mit rund 14 Tagen unter dem Österreich-Schnitt von 15. Auffällig sei aber, "dass die psychisch bedingten Langzeitkrankenstände in Vorarlberg österreichweit am höchsten sind"– etwa 21 Prozent der Langzeitfälle hätten psychische Ursachen. Das sei ein klares Signal, dem Thema mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

Grenzen werden früher sichtbar

Die Frage, ob Menschen heute schneller an Grenzen stoßen, weist Pitschl zurück. Grenzen würden vor allem "früher sichtbar" – auch, weil psychische Themen offener angesprochen und diagnostiziert werden. Außerdem: "Sie achten stärker auf ihre Gesundheit." Dass junge Menschen schneller überfordert seien, lasse sich so nicht belegen. Eher sprächen sie Belastungen offener an, was den Eindruck verstärke.

Die Gründe für Überforderung am Arbeitsplatz seien kumulativ: höhere Arbeitsintensität, Fachkräftemangel ("Mehrarbeit, Tätigkeiten außerhalb der Ausbildung"), zu wenig Erholung und wirtschaftliche Unsicherheit.

Moderne Arbeitsbedingungen: besser – und zugleich belastender

Arbeitsschutz habe viel verbessert, Arbeitsunfälle seien rückläufig, "aber nicht verschwunden". Gleichzeitig habe die Digitalisierung die Intensität erhöht und Arbeit "räumlich und zeitlich ausgedehnt". Früher sei Arbeit klar abgegrenzt gewesen, heute dringe sie in viele Lebensbereiche vor. Seit 2013 sei daher die Evaluierung psychischer Arbeitsbedingungen verpflichtend – sinnvoll, weil daraus konkrete Gegenmaßnahmen abgeleitet werden könnten.

"Wofür arbeite ich mehr als nötig?"

Auch Zukunftsaussichten spielen hinein: "Wenn junge Menschen früh wahrnehmen, dass Eigentum schwer erreichbar ist, stellt sich die Frage: Wofür arbeite ich mehr als nötig?" Das liege weniger an den Jugendlichen als an Rahmenbedingungen – Unternehmen könnten hier gegensteuern, besonders in der Lehrlingsausbildung, indem sie Entwicklungsmöglichkeiten über die reine Fachlichkeit hinaus bieten.

"Mental Load"

Durchgängige Geschlechterunterschiede bei Belastungsfaktoren sehe sie in Befragungen nicht. Unterschiede zeigten sich eher zwischen Altersgruppen. "Was aber nachweislich eine Rolle spielt, ist die Mehrlast zu Hause." "Mental Load" liege häufig stärker bei Frauen – von Hausarbeit bis zur gesamten Familienorganisation und digitalen Schulkommunikation – und wirke in den Arbeitsalltag hinein.

FAQ

Was bedeutet „Mental Load“?

Kurz erklärt

Mental Load bezeichnet die unsichtbare, ständige Denkarbeit des Organisierens, Erinnerns und Koordinierens von Aufgaben. Dazu gehören Planung, Antizipation („wer braucht wann was?“), Priorisieren, Nachfassen und die emotionale Verantwortung, dass alles läuft – zuhause und im Job.

Typische Beispiele

  • Privat: Arzttermine koordinieren, Kinder-Termine und Vereinsinfos im Blick behalten, Vorräte checken, Geschenke planen.
  • Beruf: To-do-Abläufe im Kopf halten, Deadlines und Abhängigkeiten überwachen, Kolleg:innen erinnern, Unklarheiten vorwegnehmen.

Warum ist das ein Problem?

  • Die Last ist oft unsichtbar und wird nicht als Arbeit mitgedacht.
  • Sie verursacht dauerhafte kognitive Beanspruchung (ständige Alarmbereitschaft), was zu Erschöpfung, Reizbarkeit oder Schlafproblemen führen kann.
  • Im Privatleben liegt Mental Load häufig ungleicher verteilt (Stichwort „Mental Load Gap“), was zusätzliche Friktion erzeugt.

Woran erkenne ich zu viel Mental Load?

  • Gedankenkreisen („Ich darf XY nicht vergessen…“), innere Checklisten rund um die Uhr
  • Gefühl, für alles zuständig zu sein; das Team/der Haushalt „fragt immer mich“
  • Kaum Erholung, ständige Erreichbarkeit, Mikrostress durch Benachrichtigungen
Was hilft?
  • Sichtbar machen: Aufgabenlisten inkl. Planung/Verantwortung (nicht nur Ausführung) teilen.
  • Verbindlich delegieren: „End-to-end“-Verantwortung (Planen → Umsetzen → Nachhalten) übergeben, keine „Manager-Rolle“ zurückbehalten.
  • Grenzen setzen: Erreichbarkeitsregeln, Fokuszeiten, Benachrichtigungen bündeln.
  • Routinen & Tools: Gemeinsame Kalender, Checklisten, Automatisierungen (Abo, Erinnerungen).
  • Regelmäßige Reviews: Wöchentlich 15–20 Min. Abstimmung: Was fällt an? Wer übernimmt komplett?

Was Führungskräfte tun können

Pitschl empfiehlt, Gesundheit klar zur Chefsache zu machen: betriebliches Gesundheitsmanagement, konsequente Umsetzung des Arbeitnehmerschutzes und präventiv-psychologische Angebote. Zentral sei die Arbeitsorganisation: "Bessere Rahmenbedingungen stärken die Resilienz." Große Hebel sieht sie bei Führungskräften: Schulungen in psychischer Erstversorgung und Gesprächsführung, gelebte Wertschätzung. "Der Führungsstil hat nachweislich Einfluss auf die Gesundheit – bis hin zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen." Gute Führung könne zur Ressource werden und gesundes Verhalten fördern.

Sie wünscht sich Investitionen in Prävention statt ausschließlich in kurative Angebote. Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel müssten ausgeweitet werden – von Ausbildung bis zur Attraktivität der Region. "Bezahlbarer Wohnraum gehört dazu", um Fachkräfte zu gewinnen und Perspektiven für Jüngere zu schaffen. Stabilere Rahmenbedingungen stärkten Belastbarkeit und Gesundheit langfristig.

Arbeitspsychologin Veronika Pitschl. ©VOL.AT/Emilia Waanders

Was Beschäftigte selbst tun können

Drei konkrete Tipps nennt Pitschl:

  • Schlaf und Erholung priorisieren: "Schlaf ist immanent, um Belastungen entgegenzuwirken."
  • Klare Grenzen setzten (z.B. Arbeitshandy ausschalten, Urlaubsabgrenzung).
  • Soziale Netze pflegen: "Wir sehen deutliche Unterschiede, wenn Menschen stabile soziale Ressourcen haben."
  • Kleine Alltagsrituale und Mikroerholungen (z.B. kurze Pausen, Wege zu Fuß, bewusste Unterbrechungen).

"Nach wie vor sehr belastbar"

Auf die Kernfrage antwortet Pitschl eindeutig: "Die Menschen sind nach wie vor sehr belastbar und können gut mit Belastung umgehen." Corona habe vor allem Vulnerable stärker getroffen – diese Gruppen müssten geschützt werden. Entscheidend sei, Arbeitsumgebungen so zu gestalten, "dass Menschen nicht unnötig vielen Belastungen ausgesetzt sind".

Ameco – Arbeitsmedizinisches Zentrum Vorarlberg

  • Leistungen:
  • Arbeitsmedizin (Vorsorge-/Eignungsuntersuchungen, Impf- & Unterweisungsprogramme, ASA-Betreuung)
  • Arbeits- & Organisationspsychologie (Evaluierung psychischer Belastungen, Beratung, Coaching, Workshops)
  • Betriebliches Gesundheitsmanagement/-förderung (Analyse, Maßnahmenplanung, Programme, Evaluation)
  • Präventions- & Ergonomieberatung
  • Schulungen, u. a. "Erste Hilfe für die Seele" (psychische Ersthilfe für Unternehmen)
  • Adresse: Höchsterstraße 27a, 6850 Dornbirn
  • Kontakt: Tel. +43 5574 202-1031
  • E-Mail: office@ameco.at

(VOL.AT)

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