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Flucht aus Syrien: "225 Menschen auf einem 20m-Boot"

Muhammad würde sich sein Geld lieber selbst verdienen.
Muhammad würde sich sein Geld lieber selbst verdienen. ©MiK
Muhammad (40) aus Syrien ist seit rund 20 Monaten in Vorarlberg. W&W erzählt er von seiner Flucht, wie es ihm seither ergangen ist und was er sich von seinem neuen Leben in Vorarlberg erhofft.

„Nachdem der Krieg vor viereinhalb Jahren angefangen hat, haben wir jahrelang auf sein Ende gehofft. Täglich wurden die Städte zerbombt, ich hatte große Angst um meine Familie“, sagt Muhammad, der nach mehreren Jahren im Kriegsgebiet mit seiner Familie von Damaskus nach Kairo in Ägypten geflohen ist, in gebrochenem Deutsch. “2013 bekamen wir unser zweites Kind. Lebensmittel waren sehr teuer, es gab keine Medikamente, keine Babynahrung. Wir mussten fliehen.”

“Heute würde ich mich für den Landweg entscheiden”

Von Ägypten aus wollte Muhammad nach Schweden, wo seine Mutter und seine Schwester Asyl gefunden haben. „Gleich die Familie mitzunehmen wäre unmöglich gewesen. Ich war zwei Wochen unterwegs, davon neun Tage auf See. Der Skipper hatte uns versprochen, es sei eine sichere Überfahrt mit genug Platz und Verpflegung für alle.“

Die Realität sah anders aus, denn für die 3300 US-Dollar, die er bezahlte, bekam er einen von 225 Plätzen auf einem 20 Meter langen Fischerboot. „Uns wurde gesagt, wir hätten Glück. Normalerweise würden auf diesem Boot 350 Personen transportiert. Am letzten Tag hatten wir trotzdem kein Essen und auch kein Wasser mehr. Ich dachte, die Überfahrt sei sicherer. Heute würde ich mich für den Landweg entscheiden.“

“Paradies Europa”

Der 40-Jährige wurde auf seinem Weg nach Schweden an der Grenze von der deutschen Polizei aufgegriffen. „Sie haben mich zurück nach Österreich geschickt. In Feldkirch war mein Asylverfahren, das rund sechs Monate gedauert hat. Heute geht das bei syrischen Flüchtlingen sehr schnell – in ein bis zwei Monaten hat man den Status. Elf der 25 Millionen Syrer sind auf der Flucht. Das sind unvorstellbare Zahlen. Für Menschen in Syrien, die natürlich die Bilder im Internet und Fernsehen kennen, gilt Europa als Paradies.“

Der glücklichste Tag

Vor einem halben Jahr durfte seine Familie nach Österreich nachkommen. „Als sie endlich hier war, war das der glücklichste Tag für mich. Meinen Sohn hatte ich mit sechs Monaten das letzte Mal gesehen. Anfangs hat er mich überhaupt nicht erkannt“, berichtet Muhammad von der Familienzusammenführung. „Ich habe meine Familie sehr vermisst. Wenn Frau und Kinder nicht nachkommen dürfen hätten, wäre ich bestimmt wieder zurück gegangen.“ Muhammad ist überzeugt, dass es Flüchtlinge in Vorarlberg verhältnismäßig gut haben. „Wir haben hier genug von allem und dafür sind wir sehr dankbar. Jene, die nicht flüchten können, brauchen dringend Hilfe“, betont er. Manchmal schafft er es, ein bisschen Geld in seine Heimat zu schicken. „Mit 50 Euro kann eine Familie einen ganzen Monat lang leben.“

“Das Einzige, das ich zurückgeben kann, ist Arbeit”

„Wir bekommen viel, ich würde das Geld aber lieber selbst verdienen. Die Gemeinschaft hier hat uns sehr geholfen und das Einzige, das ich zurückgeben kann, ist Arbeit.“ 35 Bewerbungen hat der ehemalige Vertriebsleiter eines Lebensmittelunternehmens in den vergangenen Wochen geschrieben und nur Absagen erhalten. „Ich kann gut verstehen, dass ich kein Wunschkandidat für einen Arbeitgeber bin. Es gibt mehr als genug Einheimische, die gleich oder besser qualifiziert sind, natürlich besser Deutsch können und ebenfalls nach Arbeit suchen“, lautet seine realistische Einschätzung der Lage. „Ich weiß, dass ich hier wohl nie eine leitende Position haben werde. Trotzdem wäre es schön, wenn ich zumindest eine einfache Arbeit hätte, bei der ich Aufstiegschancen habe. Körperliche Arbeit ist zwar nicht meines, aber auch die würde ich sofort machen, wenn ich eine Stelle finde“, betont er.

Ehrenamtlicher Lehrer

Um mit seiner Zeit etwas Sinnvolles anzufangen, gibt Muhammad ehrenamtlich Deutschunterricht für syrische Flüchtlinge. Erst seit er hier ist, lernt er selbst die Landessprache, die er schon recht gut beherrscht. „Englisch habe ich mir zuhause mehr oder weniger selbst beigebracht und ehrenamtlich als Fremdenführer gearbeitet, um es zu verbessern. Deutsch ist sehr schwierig, aber ich lerne gerne Sprachen, auch weil es mir leicht fällt.“ Seinen großen Traum hat er aber noch nicht aufgegeben: „Ich wünsche mir ein besseres Leben für meine Kinder, möchte Arbeit finden und eines Tages eine Pension bekommen, die ich mir verdient habe.“

40.000 Asylanträge wurden in Österreich 2002 gestellt. Nach 2006 waren es jährlich unter 15.000, bis die Zahlen durch die Kriege in Syrien und Irak seit 2011 wieder stiegen. 20Prozent der Asylanträge werden von Frauen gestellt. Dennoch gilt bei Experten die Prämisse: „Flucht ist männlich“. 5233 Asylanträge syrischer Flüchtlinge hat es im Jahr 2015 bisher gegeben (Stand 31. Mai). Das ist über ein Viertel aller in Österreich gestellten Anträge. 2320 unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge sind 2015 nach Österreich gekommen. 132 von ihnen sind unter 14 Jahre alt.

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