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Filmstart von "Das unbekannte Mädchen": Interview mit Regisseur Luc Dardenne

Regisseur Luc Dardenne (hier zusammen mit seinem Bruder Jean-Pierre) im Interview
Regisseur Luc Dardenne (hier zusammen mit seinem Bruder Jean-Pierre) im Interview ©Polyfilm
Mit dem neu im Kino angelaufenen Werk "Das unbekannte Mädchen" stellt das Brüderpaar Luc und Jean-Pierre Dardenne Fragen von Schuld und Verantwortung.
Die Kritik zum Film

Im aktuellen Sozialdrama der beiden belgischen Regisseure wird eine Ärztin von Schuldgefühlen geplagt, weil sie einer Schutzsuchenden die Hilfe verweigert hat. Luc Dardenne spricht im Interview über die Rahmenhandlung, die als Kritik an Europas Umgang mit Flüchtlingen zu lesen ist.

APA: Ihr Film erzählt eigentlich von zwei unbekannten Mädchen: Neben der ermordeten jungen Frau wissen wir auch über die Ärztin Jenny, die die Identität der Toten herausfinden und ihr damit die Würde zurückgeben will, nichts. Mit welchen der beiden Figuren hat Ihre Geschichte ihren Anfang genommen?

Luc Dardenne: Die erste Figur war absolut die Ärztin. In der Tat bleibt Jenny eine Unbekannte und wird in sich eine Unbekannte entdecken. Wir haben sehr lange damit gerungen, wie sie konstruiert wird, haben noch nie so viele verschiedene Privatleben entworfen, so viele Skizzen wieder verworfen. Jedes Mal, wenn wir eine Version hatten, sind wir in einer Sackgasse gelandet. Hätte Jenny Familie, Freunde, einen Liebhaber, hätten diese sie kleinlich erscheinen lassen und ihr sagen können: “Es ist nicht so schlimm.” Oder sie wäre im Vergleich zu ihnen als Heldin da gestanden. Eine zweite Version war die, dass sie ein privates Problem hat und sich dank des unbekannten Mädchens selbst rettet. Aber es sollte kein Problem brauchen, um sich für die Unbekannte zu interessieren. Was wir wirklich erzählen wollten, war, dass sich diese Ärztin schuldig fühlt und durch ihr Verhalten auch diejenigen, die sich überhaupt nicht dafür verantwortlich fühlen, dazu bringt, zu reden und die Schuld zu teilen.

Jenny maßregelt eingangs ihren Praktikanten, Emotionen bei der Arbeit außen vor zu lassen, lehnt kurz darauf aber einen wichtigen Karriereschritt wegen Schuldgefühlen ab. Widerspricht sie sich damit selbst?

Es ist klar, dass es eine Distanz braucht, um eine gute Diagnose zu stellen, aber Jenny hat nicht nur Empathie, sie hat auch die Fähigkeit, zuzuhören. Sie ist jemand, der ein Schweigen, eine Stille aushält. Wir haben zu Adele gesagt: Du horchst, hörst zu und bist still. Sie hält eine Distanz, aber es ist keine Distanz ohne Emotion; es ist eine Offenheit und eine Disposition da.

Jenny scheint komplett auf sich gestellt und wird vielfach von Patienten physisch bedroht, die sich an ihrer Spurensuche stören. War es Ihnen ein Anliegen, von einer Frau in diesem Beruf zu erzählen, um auch diese zusätzlichen Risiken aufzuzeigen?

Es kommt vor, dass Ärzte abends angegriffen werden, deshalb sind sie oft in Begleitung unterwegs, Männer wie auch Frauen. Wir haben mehr oder weniger aus Intuition heraus eine Ärztin gewählt, um zu zeigen, dass es hier vonseiten der Männer eine Gewaltausübung gibt. Mit einem männlichen Protagonisten hätten wir nicht die gleichen Szenen konstruiert. Es gibt dieses Risiko, dieses einer Gewalt ausgesetzt sein, die Frauen im Allgemeinen betrifft.

In den meisten Ihrer Filme stehen Frauen im Zentrum. Steht dahinter immer Intuition?

Es stimmt, dass wir oft weibliche Charaktere haben, zum Teil aus Intuition, ohne die wir keine Filme machen würden. Rosetta (im Film “Rosetta” 1999, Anm.) ist eine junge Frau, die auf einen Arbeitsmarkt kommt, auf dem unglaubliche Ungleichheiten herrschen. Es geht uns um die Befreiung der Frau aus der jahrhundertelangen Dominanz der Männer – sei es im Religiösen, wo die Frau nur auf die Fortpflanzung reduziert wird, oder in einem sozialen Aspekt. Auf alle Fälle ist es so: Wenn eine Frau etwas in Bewegung bringt, bringt sie alles in Bewegung. Wir sind besonders daran interessiert, Frauen zu inszenieren, weil es immer mit einer Marginalisierung zu tun hat.

Jenny wird von vielen als besessen und zudringlich empfunden, wagt aber tatsächlich Dinge, die sich andere nicht trauen. Verfügt sie über einen Mut, der in unserer Gesellschaft selten ist?

Wir wollten weder, dass der Film noch Jenny Lektionen erteilt. Sie fühlt sich schuldig und will, dass auch die anderen sich schuldig fühlen. Wenn die Leute ihr Verhalten als Vorwurf empfinden, dann deshalb, weil sie nicht verstehen kann, dass sie schweigen, ihre Eigeninteressen in den Vordergrund stellen und der Frau nicht zumindest den Namen zurückgeben wollen. Sie hat etwas total Unnachgiebiges, etwas Obsessives; wenn man das übertrieben findet, hat es auch mit uns selbst zu tun.

Nachdem es sich beim unbekannten Mädchen um einen Flüchtling aus Afrika handelt: Kann Ihr Film als Kommentar auf den Umgang Europas mit der Flüchtlingskrise interpretiert werden?

Ja, das soll auf jeden Fall so gelesen werden. Die Figur der Afrikanerin ohne Papiere gäbe es ohne diese Situation nicht. Wir haben zu einer Zeit begonnen, an dem Stoff zu arbeiten, als die Situation noch nicht so brisant war und noch nicht so viele Menschen im Mittelmeer ertrunken sind. Ich hoffe einfach, dass dieser Film die europäischen Länder, die ihre Grenzen schließen, auch zum Nachdenken bringt. Einerseits müssen die Kriege in Syrien oder dem Irak enden, aber in der konkreten Situation sehe ich die einzige Lösung in der gerechten und gleichen Aufteilung auf alle europäischen Länder. Alle – ob Belgien, Holland, Deutschland oder Österreich – müssen Verantwortung übernehmen; man kann nicht nur auf Griechenland und Italien bauen. Ich finde schrecklich, was in Polen und Ungarn passiert. Man kann nicht europäisch sein und gleichzeitig diesen bedürftigen Menschen das Asylrecht abschlagen. Erst in einem zweiten Schritt soll es um die längerfristige Integration geben. Der Zugang ist aber umgekehrt, es wird dauernd über die längerfristige Aufnahme diskutiert und das Asylrecht ausgeblendet.

Sie haben sich in der Vergangenheit oft kritisch über Politik in Österreich geäußert, konkret über den Aufstieg Jörg Haiders. Wie beurteilen Sie den starken Zulauf, den Rechtspopulisten in Europa erfahren?

Die Rechte gewinnt an Terrain in ganz Europa. Sie surft auf der Welle der Angst der Menschen, sowohl was die Arbeitslosigkeit, als auch die Unsicherheit in einem kriminellen Kontext betrifft. Die große Gefahr ist die, dass die Bevölkerungen nicht mehr die moralische, kulturelle und intellektuelle Bildung haben, um dem zu widerstehen. Die Linke hat einfach aufgehört, diese Rolle wahrzunehmen. Früher gab es eine Art von ständiger Weiterbildung durch kulturelle Aktivitäten, sei es vom Kino, dem Theater, die die Ideale der Solidarität, die stärker sind als Angst, weitergetragen und vermittelt haben. Die Chance, die Europa jetzt hat, ist die, dass sich die Linke der Mitte, die Sozialdemokratie neu definiert, bevor es zu spät ist. Dieser Kultur, die immer individualistischer und konsumorientierter wird, muss etwas entgegen gehalten werden, denn genau diese Menschen geben Flüchtlingen die Schuld daran, wenn sie sich weniger leisten können. Hier muss man aktiv sein. Ich mache das als Filmemacher mit meinen Filmen; Kinosäle müssen erhalten, Filme gezeigt werden, die eine kritische Haltung und eine menschliche Solidarität vermitteln.

(Das Gespräch führte Angelika Prawda/APA /Red.)

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