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EU-Zitterpartie in Frankreich

Der französische Präsident Jacques Chirac und seine rund 42 Millionen französischen Landsleute bescheren der Europäischen Union am Sonntag eine Zitterpartie von historischer Bedeutung.

Wenn die Umfragen Recht behalten, wird Frankreich, eine der sechs Gründungsnationen der Union, am Sonntag die EU-Verfassung ablehnen und damit erstmals seit einem halben Jahrhundert ein großes europäisches Vorhaben zurückweisen. Die Befürworter des Verfassungstexts versuchen bis zum Schluss, die Unentschlossenen noch zu einem Ja zu bewegen.

Weitreichende Folgen

Ein “Nein” hätte Folgen für Frankreich und den ganzen Kontinent – darauf hofft eine bunte Koalition von Gegnern des Textes, die je nach politischer Ausrichtung entweder ein weiter links stehendes Europa oder aber schlicht weniger EU will. Mit der Zustimmung des deutschen Bundesrates in Berlin am Freitag haben neun der inzwischen 25 EU-Staaten Europas Grundgesetz auf den Weg gebracht.

Der österreichische Nationalrat ratifizierte die EU-Verfassung am 11. Mai dieses Jahres, und zwar mit nur einer Gegenstimme. Nirgendwo löste der Verfassungsvertrag so lebhafte Diskussionen aus wie in Frankreich. Allein die beiden größten Parteien, die bürgerliche UMP von Staatschef Chirac und die oppositionellen Sozialisten, trommelten landesweit jeweils mehr als 2.000 Mal für die Annahme der Verfassung. Der Text bringe „nur Fortschritte und keinen einzigen Rückschritt“, beschwor Außenminister Michel Barnier.

Überzeugungsarbeit

Chirac trat vier Mal im Fernsehen auf, um die Bürger von dem Text zu überzeugen, sein einstiger Erzrivale Lionel Jospin von den Sozialisten verließ sein selbstgewähltes Exil und verteidigte die EU-Verfassung entschlossen vor allem gegen linke Kritiker. Der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und der spanische Ministerpräsident Jose Luis Rodriguez Zapatero wollten noch am Freitagabend helfen, linke Zweifler zur Zustimmung zu bewegen. Umfragen geben dem Nein allerdings bis zu zehn Punkte Vorsprung. Viele Experten glauben nicht, dass der Rückstand bis zur Schließung der letzten Stimmlokale am Sonntagabend um 22.00 Uhr aufzuholen ist.

Ex-Präsident Valery Giscard d’Estaing, als Chef des Reformkonvents der französische „Vater“ der Verfassung, will nicht aufgeben und ebenso wie der Chef seiner zentrumsliberalen Partei UDF, Francois Bayrou, bis zuletzt kämpfen. Das größte Handicap für die Befürworter der Verfassung ist nicht etwa gezielte Kritik an dem langen und oft hochkomplizierten EU-Text, den Frankreichs Linke zu liberal finden und Frankreichs Nationalisten zu wenig national.

Im Zweifel ein zweiter Anlauf

Den Ausschlag für ein Nein könnte der Groll vieler Franzosen gegen Chirac und dessen unbeliebte Regierung unter Premierminister Jean-Pierre Raffarin geben. Sollten die Franzosen den Verfassungsvertrag zurückweisen, wäre noch nicht aller Tage Abend, versichert Giscard: Dann würden sie eben ein zweites Mal abstimmen – in etwa eineinhalb Jahren, wenn fast alle anderen EU-Staaten den Text angenommen hätten und Frankreich mit einem Mal als weißer Fleck auf Europas politischer Landkarte erscheine.

In einer feierlichen Ansprache aus dem Elysee-Palast versuchte der Präsident das drohende Nein am Donnerstagabend noch einmal mit Appellen an das Verantwortungsbewusstsein der Franzosen abzuwenden. Nach einhelliger Einschätzung überzeugte er kaum. Erklärte Europa-Gegner wie der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen freuen sich schon auf einen europaweiten „Domino-Effekt“ des französischen Nein – denn schon am nächsten Mittwoch könnten auch die Niederländer den Text zurückweisen.

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