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Empathie-Keule: "Das Mädchen mit dem Fingerhut" von Michael Köhlmeier

Kindlicher Überlebenskampf am Rande der europäischen Überflussgesellschaft
Kindlicher Überlebenskampf am Rande der europäischen Überflussgesellschaft ©VN
"Das Mädchen mit dem Fingerhut" - das klingt ein wenig nach einem Märchen-Titel. Die Geschichte eines namenlosen Kindes, das durch Europa irrt und am Rande der Überflussgesellschaft gegen Hunger und Kälte kämpft, stammt weder von den Gebrüdern Grimm noch von Hans Christian Andersen, sondern von Michael Köhlmeier.

Ein Märchen ist das am Montag erscheinende Buch des Vorarlberger Erzählers dennoch. “Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge” heißen in der Amtssprache jene Kinder, die ohne Eltern in einer ihnen fremden Gesellschaft stranden. Theoretisch gelten sie den Behörden als besonders schutzbedürftig. Doch der Onkel, der eine Sechsjährige eines frühen Morgens vor einem Marktstand abstellt, in der Hoffnung, der gutherzige Händler Bogdan werde sich um sie kümmern, hat der Kleinen eine wichtige Verhaltensregel eingeschärft: Zwar kann sie die Sprache des Landes nicht, doch wenn das Wort “Polizei” fällt, soll sie zu schreien beginnen. Dennoch funktioniert die Mitleids-Masche als Überlebensstrategie nur eine Zeit lang, ehe doch die Behörden auf das Kind aufmerksam werden.

Im Kinderheim hätte das Mädchen, das seinen Namen nun mit Yiza angibt und sofort zum Liebling der betreuenden Schwester wird, alle Chancen für einen behüteten zweiten Lebensstart. Doch schon in der ersten Nacht haut sie mit einem Vierzehnjährigen, der ihre Sprache spricht, und einem kleineren Buben ab. Der Freund verspricht ein Winterquartier für die Drei in einem unbewohnten Haus – dort könne man ohne Erwachsene den ganzen Tag fernsehen und regelmäßig die Tiefkühltruhe plündern, lautet die Verheißung. Doch aus dem Abenteuer wird ein verbissener Überlebenskampf.

Eskalierende Ereignisse

Dem vermeintlich aktuellen Sujet begegnet Köhlmeier mit einem irritierenden Erzählduktus. Man wähnt sich nicht in der Gegenwart, sondern in der Welt von Charles Dickens. Auf der einen Seite Überfluss und Geborgenheit, auf der anderen die Ausgestoßenen, die nur durch Betteln und Stehlen am Leben bleiben, denen drohende Lungenentzündungen und unter dem Fingerhut schwelende Eiterherde ständige Begleiter sind. Die Ereignisse eskalieren, doch es herrscht ein raunender Märchenton vor. Bloß spielen nicht mehr Schwefelhölzchen sondern Aspirin-Packungen eine tragende Rolle.

Große Empathie-Keule

Das Mädchen mit dem Fingerhut” schwingt die große Empathie-Keule, findet aber für das fremde Leid nicht die rechten Worte. Sie wirken unecht und unbeholfen wie jene Tröstungsversuche, mit denen die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel Mitte Juli auf die Tränen eines palästinensischen Flüchtlingsmädchens reagierte: “Du bist ja ein unheimlich sympathischer Mensch”, gewährte sie Streicheleinheiten und ersuchte selbst um Verständnis: “Und wenn wir jetzt sagen: Ihr könnt alle kommen – das können wir auch nicht schaffen.”

Sechs Wochen später hatte sich Merkel vom Streicheln zum Handeln entschlossen und den richtigen Ton gefunden: “Wir schaffen das!” Auch Köhlmeier wird das schaffen. Der Wind der Wirklichkeit säuselt längst nicht mehr. Er stürmt. Und noch weiß keiner, was er alles mit sich reißen wird.

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