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„Emily – No Prisoner Be“: Eine klingende Ode an Emily Dickinson bei den Bregenzer Festspielen

Die Uraufführung dieses Auftragswerks für Stimme, Streichertrio und Bühne mit Joyce DiDonato, Time for Three und Kevin Puts lässt Dichtung zu Musik werden.

Am 14. und 16. August verwandelt sich die Werkstattbühne der Bregenzer Festspiele in
einen Raum poetischer Introspektion, musikalischer Entgrenzung und künstlerischer Selbstbehauptung. Mit der Uraufführung von „Emily – No Prisoner Be“ betritt ein Werk die Bühne, das die lyrische Welt der US-amerikanischen Dichterin Emily Dickinson in 24 Liedern neu zum Klingen bringt und drei der spannendsten Persönlichkeiten der zeitgenössischen Musikszene vereint: den Komponisten Kevin Puts, die Mezzosopranistin Joyce DiDonato und das genreübergreifende Trio Time for Three. Regie führt der vielseitige britische Tenor und Regisseur Andrew Staples.

Leben und Tod

Die Gedichte Emily Dickinsons gehören zu den unerschöpflichen Quellen der amerikanischen Literatur. Ihre Verse, oft nur wenige Zeilen lang, sind sparsam in der Sprache, aber tief in der Wirkung. Sie kreisen um existenzielle Themen: Leben und Tod, Identität, Spiritualität, Natur und Einsamkeit. Es sind Gedichte, die sich jeder Deutung entziehen, da sie mehr andeuten als aussprechen. Gerade darin liegt ihre Kraft – und ihre Modernität.

Kevin Puts, der 2012 mit seiner Oper „Silent Night” den Pulitzer-Preis gewann und 2023 einen Grammy für sein Violinkonzert „Contact“, widmet sich in seinem neuen Werk dieser schwer zu fassenden Lyrik mit einer Klangsprache, die Emotionalität und Struktur, Leichtigkeit und Tiefe in Balance bringt. „Emily – No Prisoner Be“ ist kein Liederzyklus im klassischen Sinn, sondern eine musikalisch-dramatische Annäherung an das Innenleben einer Frau, die ihr Leben lang zurückgezogen lebte, aber mit scharfem Blick auf die Welt blickte.

Es ist kaum eine bessere Stimme denkbar als die von Joyce DiDonato, um Emily Dickinson auf der Bühne Gestalt zu verleihen. DiDonato, gefeiert für ihre Ausdruckskraft, ihre Wandlungsfähigkeit und ihr gesellschaftliches Engagement, schlüpft hier nicht einfach in eine Rolle – sie nimmt die Perspektive der Dichterin ein. In den 24 Liedern, die Puts für sie komponiert hat, wird das biografische Fragment zum inneren Monolog, zur Reflexion, zum Aufbegehren. DiDonato gestaltet diese Musik nicht nur mit stimmlicher Präzision, sondern auch mit szenischer Intelligenz und einer Unmittelbarkeit, die berührt.

Gleichzeitig bricht sie das Bild der entrückten Poetin auf. Dickinson erscheint nicht als scheue Einsiedlerin, sondern als aufmerksame, ironische und auch wütende Beobachterin. Ihre Verse fragen: Wer bestimmt, wie ich zu leben habe?“ Warum soll ich an das glauben, was mir gesagt wird? Und wo beginnt – trotz aller Zwänge – der freie Geist?

Raumgreifendes Klangbild

Die musikalische Begleitung liegt in den Händen (und Bögen) von Time for Three (Tf3), einem Trio, das keine Grenzen kennt. Zwei Geigen (Charles Yang und Nick Kendall) und ein Kontrabass (Ranaan Meyer) bilden ein Ensemble, das mühelos zwischen den Genres Klassik, Folk, Jazz, Bluegrass und Pop oszilliert. Ihre Beteiligung verleiht dem Werk rhythmische Energie, improvisatorische Lebendigkeit und eine klangliche Offenheit, die Dickinsons Vieldeutigkeit musikalisch aufgreift.

Puts nutzt die Vielstimmigkeit von Tf3 nicht als Effekt, sondern als strukturelles Element: Die Streicher kommentieren, umspielen, unterbrechen und spiegeln die Gesangslinie – manchmal wie ein innerer Chor und manchmal wie Gegenstimmen im Denken. Elektronische Mittel und Loops erweitern die akustische Palette subtil, aber wirkungsvoll. So entsteht ein intimes, aber raumgreifendes Klangbild – wie eine musikalische Gedankenlandschaft.

Andrew Staples, der selbst als Sänger auf den Opernbühnen der Welt zu Hause ist, inszeniert die Uraufführung mit sicherem Gespür für die musikalische Textdramaturgie. Er setzt nicht auf naturalistische Darstellung, sondern auf die poetische Verdichtung der Bühne: Licht, Bewegung, Projektionen und die Sängerin im Zentrum als Medium zwischen Innen- und Außenwelt. Unterstützt von deutschen Übertiteln bleibt die Originalsprache erhalten, was der besonderen Musikalität von Dickinsons Texten gerecht wird.

Appell zur Freiheit des Geistes

„Emily – No Prisoner Be“ ist mehr als eine Reverenz an eine große Dichterin. Es ist ein Werk über Selbstbestimmung, über Sprachmacht und über die Kraft des Denkens. Die Musik von Kevin Puts, die Stimme von Joyce DiDonato und das Spiel von Time for Three verbinden sich zu einer künstlerischen Expedition in den Raum zwischen Zeile und Klang.

In einer Zeit, in der der öffentliche Diskurs zunehmend polarisiert ist, wirkt dieses Projekt wie ein leiser, aber eindringlicher Appell zur Reflexion, zur Empathie und zur Freiheit des Geistes. Oder, wie Dickinson selbst schrieb:

    „I dwell in Possibility – A fairer House than Prose –“

Für zwei Abende wird die Werkstattbühne der Bregenzer Festspiele zu diesem „House of Possibility“.

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