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Egal ob Wien oder Bregenz: "Jugend braucht Freiräume ohne Konsumzwang"

Sandro Nicolussi fordert von den Verantwortlichen mehr Freiräume für Jugendliche und ein Comeback der Clubkultur.
Sandro Nicolussi fordert von den Verantwortlichen mehr Freiräume für Jugendliche und ein Comeback der Clubkultur. ©APA, Andreas Jakwerth
Joachim Mangard (VOL.AT) joachim.mangard@russmedia.com
Der gebürtige Lauteracher Sandro Nicolussi (27) lebt und arbeitet in Wien. Als "The Gap"-Chefredakteur und DJ hat er Verständnis für die aufbegehrende Jugend am Karlsplatz, und auch an der Bregenzer Pipeline.

VOL.AT: Heute fand ja angesichts der angespannten Situation rund um den Karlsplatz ein „Round Table“ in Wien statt. Wie beurteilst du die Situation?

Sandro Nicolussi: Der Round Table wurde sehr kurzfristig angesetzt und innerhalb der Club-Community herrschte schnell Ratlosigkeit, wer denn da für wen sprechen würde bzw. wer die Interessen der Nacht- und Clubkultur respektive der jungen Bevölkerung vertritt. Mittlerweile habe ich erfahren, dass dort Leute von der IG Club Kultur und der Vienna Club Commission vertreten sein werden. Dennoch halte ich den Round Table eher für einen Marketingmove der Stadtregierung, die Problematik ist nämlich nicht erst seit vergangenem Wochenende bekannt, sondern wurde einfach bisher ignoriert oder als nicht wichtig betrachtet – vielleicht weil junge Menschen weniger ökonomische Schlagkraft haben als Erwachsene? Seit bald 15 Monaten stehen zudem Akteur*innen der Wiener Clubkultur mit immer neuen Konzepten zu Safer Party samt Contact Tracing und Hygienekonzept bei den verschiedenen Institutionenn vor der Türe, gehört oder gar umgesetzt beziehungsweise erlaubt wurde nichts.

VOL.AT: Wie hast du auf die Ankündigung der Polizei reagiert, mit länger andauernden Platzverboten zu arbeiten?

Sandro Nicolussi: Das Platzverbot kann sowohl als politisches Kalkül seitens der Polizei gewertet werden, aber auch als Akt der Ohnmacht. Auf alle Fälle werden durch diese Vorgehensweise junge Menschen, denen weder vernünftige Alternativen noch Perspektiven geboten werden, unter Generalverdacht gestellt. Das ist aufs schärfste zu kritisieren und darf meiner Meinung nach nicht einfach so hingenommen werden, da es sich dabei um behördliche Willkür handelt. Es sind am Karlsplatz Flaschen geflogen, es wurden Beamt*innen verletzt. Aber wären Flaschen auch geflogen, wenn kein Lautsprecherwagen durch die Menge gefahren wäre und sich die Hundertschaften nicht mit Schildern und Schlagstöcken positioniert hätten? Schließlich wurden noch Minuten zuvor kollektiv ABBA-Hymnen gesungen. Die Polizei agierte in Wien nicht deeskalierend, sondern gegenteilig.

VOL.AT: Wie steht es generell um Freiräume für die Jugend in Wien? Wie beurteilst du die Situation in Bregenz? Hier stehen die Verantwortlichen vor ähnlichen Problemen?

Sandro Nicolussi: Woran es in Wien hauptsächlich fehlt, sind Freiräume ohne Konsumzwang. Wenn Jugendliche nach einem Jahr des solidarischen Daheimbleibens wieder miteinander feiern wollen – was immens wichtig für ihre psychische Gesundheit ist – dann sollte das auch möglich sein, ohne dass man sich ein kleines Bier um knapp fünf Euro leisten muss. Für eine gewisse Anzahl der Jugendlichen mag das funktionieren, aber Freiheit darf keine Klassenfrage sein. Und bei aller Liebe für bestehende Locations freue auch ich mich, wenn ich nicht ständig in die etablierte Gastro getrieben werde, sondern an manchen Orten in der Stadt mein mitgebrachtes Getränk genießen oder einfach auch mal konsumfrei flanieren kann. Es muss niedrigschwellig erreichbare und zugängliche (Kultur)Räume geben, die finanziell so unterstützt und gefördert werden, dass dort auch junge und sehr junge Menschen Ruhe, Austausch und Party finden und gestalten können.

Erwachsene, die nun wieder mit der 3G-Regel in ihre gewohnten Umgebungen wie Restaurants oder Theater gehen können, neigen dazu zu glauben, dass alle Freiheiten wieder zurückerlangt wurden. Dem ist aber nicht so, Nachtclubs sind nach wie vor geschlossen, die Sperrstunde, die nach dem aktuellen Pandemiegeschehen nur schwer rechtzufertigen ist, bleibt aufrecht. 

Aus den Medien entnehme ich, dass in Bregenz die Polizei zwar nicht mit Schlagstöcken und Tränengas anrollt, wie es in Wien übrigens spätestens seit Mai der Fall ist, sondern sich immerhin um Gespräche bemüht. Die Vorgehensweise ist allerdings die gleiche: Repression. Entweder ihr verlasst den eh schon rar gesäten Platz oder es hagelt Anzeigen. Es wird mit Verboten und Drohungen gearbeitet, weil die verschiedenen Institutionen und politischen Akteur*innen offensichtlich überfordert sind. Was nicht überrascht, wenn man sich das Durchschnittsalter der Agierenden und die schlicht nicht existenten Partizipationsmöglichkeiten der Jugend anschaut.

VOL.AT: Müll, Lärm und exzessive Partys, aber gleichzeitig das jugendliche Bedürfnis, sich auszuleben, auch angesichts der niedrigen Inzidenzwerte. Ein unlösbares Problem?

Sandro Nicolussi: Ein klassischer Konflikt, der durch Kommunikation auf Augenhöhe ausgeräumt oder zumindest abgeschwächt werden kann. Dafür müssen die Interessen der Konfliktparteien aber auch gleichermaßen ernstgenommen werden. Niemandem ist ständiger, vermeidbarer Lärm zuzumuten, obwohl bei dieser Diskussion genau so auch beim Autoverkehr angesetzt werden könnte, aber das ist ein anderes Thema. Es ist umgekehrt aber auch keinem jungen Menschen zuzumuten, ständig auf Beschwichtigung und Ignoranz seitens erwachsener Entscheidungsträger zu treffen. Alleine aus taktischen Gründen würde ich in politischer Verantwortung enge Vernetzung zur jungen Generation suchen, schließlich sind sie die Wähler*innen von morgen, aber dafür müsste man Politik mit mittel- bis langfristigem Horizont machen. Das passiert nicht.

Scharf zu kritisieren ist allerdings die Müllsituation. Die Bilder, die das Bodenseeufer vollgemüllt zeigen, erreichten auch mich und lassen mich nicht kalt. Aber auch hier fällt auf: Die sehr spärlich aufgestellten Müllkübel sind nicht selten randvoll. Und viele der jungen Feiernden scheinen sich die Mühe zu machen, ihren Müll zumindest in die Nähe dieser überfüllten Tonnen zu stellen. Dass dieser hehre Wille beim leisesten Lüftchen nichts mehr bringt und eine Bierdose gerne mal auch wegrollt, ist keine Überraschung. Es zeigt sich also, dass viele der Probleme vielleicht sogar durch eine Anpassung der Infrastruktur massiv entschärft werden könnten. Einseitige Beschuldigungen gießen nur weiter Öl ins Feuer, zumal vor allem jungen Menschen zwar Verantwortung aufgedrückt wird, aber das dazugehörige Vertrauen oder schlichte Gestaltungsfreiheit ausbleibt.

VOL.AT: Du bist selbst auch als DJ tätig. Wie steht es deiner Meinung nach um die Club-Kultur und die Nachtgastronomie? Was erwartest du dir von der Politik?

Sandro Nicolussi: Seit einem Jahr sind die Medien voll von Berichten aus und über die Nachtkultur. Dass sich an der Situation nach wie vor nichts geändert hat, muss ich nicht betonen. Nun tut sich ein weiteres Problem auf, dass die Tragweite deutlich macht: Werden die Clubs in den Sommermonaten geöffnet und die Möglichkeit auf Kurzarbeit oder finanzielle Unterstützung in diesen Bereichen nicht fortgesetzt, blicken die Betreiber*innen den umsatzschwächsten Monaten in die Augen. Das war zuvor auch so, aber da wurde das kalkuliert und in den starken Wintermonaten konnten Polster für den harten Sommer, in denen sich Leute logischerweise lieber draußen als in Clubs aufhalten, erarbeitet werden. Während der Pandemie wurden aus diesen Polstern Schuldenberge, um die Locations, die in manchen Fällen Institutionen gleichen, nicht aufgeben zu müssen.

Von der Politik erwarte ich mir ernsthaftes Interesse an den Problemen der Community, Gehör und die Möglichkeit, eigene Konzepte selbstverwaltet umsetzten zu können. Bisher scheint es so, als würde man die Konzepte gerne kopieren, aber die Akteur*innen in der Clubkultur selbst nicht machen lassen. Das frustet und bedroht Existenzen. 

VOL.AT: Wie stehst du zum heiß diskutierten Thema Impfung bei Jugendlichen, die auch einen Weg zurück ins Nachtleben bedeuten könnte?

Sandro Nicolussi: Ich freue mich auf meine Impfung, wenn sie auch für Jugendliche zugelassen wird und ihnen Schutz bietet, begrüße ich das, sofern verletzlichere Gruppen nach wie vor vorgezogen werden. Nach aktuellem Pandemiegeschehen zu urteilen ist aber nicht die Impfung der Weg zurück ins Nachtleben. Was den Weg zurück zur viel zitierten „Normalität“, sprich zu einem Status, in dem wir uns wieder auf die bisherigen sozialen Kämpfe konzentrieren können, sollten, müssen, ist einer der politischen Machtverteilung und Verantwortung. Dass die Sperrstunde noch besteht, dass Clubs noch geschlossen sind, das liegt nicht an der Impfung, das sind bewusste politische Entscheidungen, die es zu kritisieren und zu ändern gilt. (VOL.AT)

Weitere Infos zur Corona-Pandemie im VOL.AT-Spezial.

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