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Dr. Toni-Russ-Preis 2014: Die Dankesrede von Michael Köhlmeier

Bregenz - Nach der Laudatio von Hanno Loewy war der neue Russ-Preis-Träger, Michael Köhlmeier, sichtlich gerührt. Das hatte auch eine kleine Auswirkung auf seine vorbereitete Rede, die wir hier im Wortlaut für Sie haben.

Die berührende Laudatio von Hanno Loewy zeigte bei Michael Köhlmeier seine Wirkung, der seine – eigentlich vorbereitete Dankesrede (siehe unten im Wortlaut) – etwas ergänzen und adaptieren Satz musste: “Ich weiß nicht, ob ich den Preis verdiene, wenn ich der bin von dem Hanno Loewy gesprochen hat, dann verdien’ ich ihn ganz bestimmt. Aber ich weiß nicht ganz genau, ob ich der bin. Aber ich wäre sehr gern derjenige, Hanno. Also red ich einfach laut dort weiter, wo ich gerade im Stillen angekommen war …”

MK
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Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Freunde, liebe Familie,

ich weiß nicht, was ich sagen soll, und so rede ich einfach dort laut weiter, wo ich gerade im Stillen angekommen war, als ich mich vor die Aufgabe gestellt sah, eine kleine Dankesrede zu halten …

Der Gedanke, nach uns gehe es anders weiter als bisher, ist ungemütlich und waghalsig zugleich. Wir haben unser Leben ja durchdacht; wir sind alt genug geworden, um uns genügend oft zu irren, so dass wir eine gewisse Vorstellung von dem haben, was richtig und falsch, was gut und böse, was gesellschaftlich zu wünschen und was politisch abzulehnen ist. Zum Beispiel wird uns niemand mehr davon überzeugen können, dass die Welt eine Scheibe ist, und zu der Auffassung, dass die Verspottung eines Menschen mit anderer Hautfarbe moralisch weniger verwerflich sei als die Verspottung eines Weißen, werden wir uns nicht bekehren.

Selbstverständlich sind wir auch der Meinung, dass die Demokratie jene Form politischen Zusammenlebens ist, die als einzige Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit gewährleisten könnte. Zugleich wissen wir, dass keine fünf Generationen vor uns kluge Köpfe in der Monarchie die beste aller Staatsformen sahen, zumal der Monarch seine Stellung von Gott ableitete, gegen dessen Richtlinien sich bekanntlich nicht argumentieren lässt. Wenn wir noch weiter in der Geschichte zurückgehen, stellen wir mit Befremden fest, dass einer der größten Denker der Menschheit, nämlich Aristoteles, in keiner seiner drei Schriften zur Ethik die Sklaven auch nur mit einem Wort erwähnt, er es also nicht für nötig hielt, sich Gedanken über die moralische Verfasstheit einer Gesellschaft zu machen, die auf der Verdinglichung von Menschen beruhte.

Um so mehr staunen wir, dass eben diese Gesellschaftsform sich selbst als Demokratie bezeichnete. Attika, das Mutterland der Demokratie, zählte in seiner Hochblüte, also zu Lebzeiten des Philosophen, etwa 250.000 bis 300.000 Einwohner, davon waren 100.000 Sklaven. Etwa 60.000 erwachsene Männer lebten hier, sie allein durften am politischen Leben teilhaben, Sklaven und Frauen waren davon ausgeschlossen. Das sind weniger Menschen, als Dornbirn und Hohenems zusammen an Einwohnern zählen. Eine übersichtliche Angelegenheit. Für eine solche Sozietät war die Demokratie geschaffen worden.

In der Europäischen Union leben mehr als 500 Millionen Bürger und Bürgerinnen, mehr als damals die ganze Welt beherbergte, und wir stellen mit Genugtuung fest, dass in der EU Demokratie herrscht. Im Gegensatz zum Willen Gottes ist die Demokratie etwas Dynamisches, ein Prozess, etwas Fehlbares, aber auch Korrigierbares. – Etwas allerdings, das nur so lange existiert, wie das Volk daran mitwirkt. Der Demokratie, der Macht des Volkes, droht eigentlich nur eine Gefahr: nämlich das Volk selbst. Der gegenwärtige Befund: Ein großer Teil der Menschen ist entweder an der Demokratie nicht interessiert oder lehnt die Demokratie gar ab.

Ein bei Journalisten beliebtes Jokerwort ist Politikverdrossenheit. Es herrsche Politikverdrossenheit. Das Volk, der große Lümmel, wie Heinrich Heine sagt, ist politikverdrossen. Und Schuld haben – natürlich – die Politiker.

Wie bitte?

So mag vielleicht ein Theaterkritiker reden oder schreiben, aber doch bitte nicht ein politischer Journalist oder gar ein Politanalyst! Das Volk also sagt: Wenn ihr Politiker nicht für bessere Unterhaltung sorgt, tu ich nicht mehr mit. Das wäre ungefähr so, als sagte ein Kind zum Vater: Wenn du mir keinen Pudding kochst, verhungere ich eben. Ich frage: Wer ist da der Idiot, der Vater oder das Kind? Doch wohl das Kind.

Wenn wir ein so großes Gebilde wie die Europäische Union demokratisch gestalten wollen, das heißt, wenn wir eine Idee, die für die Bevölkerung einer Mittelstadt erfunden wurde auf die politische Organisierung einer halben Milliarde Menschen übertragen wollen, dann müssen wir aufhören, das Volk als einen Idioten zu betrachten, der auf alle Fälle Recht hat, und sei es auch nur, weil er nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann – nämlich wegen Minderbemitteltheit.

Vielleicht werden nachkommende Generationen das Volk, den Demos, so sehr ernst nehmen, dass sie vorschreiben, wie man sich qualifizieren muss, um dazugerechnet zu werden. Das klingt nach Elite. Aber womöglich klingt es nur so, weil wir für Zukünftiges noch kein Vokabular haben und es deshalb bei Vergangenem ausborgen.

Es ist nur ein Gedanke, und natürlich erschrecke ich darüber. Schon über die Form des Gedankens erschrecke ich, weil er etwas Hegelianisch-Dialektisches an sich hat, was mir immer schon einen Schauder über den Rücken laufen ließ: Mithilfe der Demokratie schaffen wir die Demokratie ab. Vor der Dialektik schaudert mir nicht weniger als vor der Weisheit des Volkes. Wenn sich eine Mehrheit von Menschen, denen die Demokratie entweder nichts bedeutet oder die sie sogar ablehnen, durch ihr bloßes Dasein an der Demokratie teilhat, dann wird die Demokratie ebenfalls abgeschafft.

Dabei wollte ich auf Optimismus hinaus an diesem schönen Tag. Verzeihen Sie mir meine losen dunklen Gedanken nicht, sondern geben Sie ihnen Licht, indem sie sie gegen bessere austauschen!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und danke der Jury, die sich darauf geeinigt hat, mir den Toni Russ-Preis zuzusprechen. Vor allem möchte ich Monika Helfer danken, mit der ich mich in einem nun schon fast vierzig Jahre andauernden Dialog befinde, ohne den ich längst verhungert und verblödet wäre. 

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