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Die Macht der Bilder aus Gaza – und die Pflicht zur Einordnung

Im Fokus der Kritik steht nicht der Hunger der Menschen, sondern der Verdacht, dass der Fotograf Szenen gezielt inszeniert, um bestimmte Emotionen zu erzeugen.
Im Fokus der Kritik steht nicht der Hunger der Menschen, sondern der Verdacht, dass der Fotograf Szenen gezielt inszeniert, um bestimmte Emotionen zu erzeugen. ©IMAGO / Anadolu Agency
Leid, das bewegt – und Fragen aufwirft. Die Bilder aus dem Gazastreifen erschüttern die Welt: hungernde Kinder, zerstörte Häuser, verzweifelte Familien. Doch was zeigen diese Aufnahmen wirklich – und was bleibt uns verborgen? Inmitten emotionaler Schlagzeilen wächst die Sorge vor verzerrter Wahrnehmung und der Gefahr politischer Instrumentalisierung.

Seit Monaten prägen erschütternde Bilder aus dem Gazastreifen die internationale Berichterstattung: abgemagerte Kinder, Frauen mit leeren Töpfen, zerstörte Wohnviertel. Diese Aufnahmen lösen weltweit Mitgefühl aus – und beeinflussen politische Debatten ebenso wie humanitäre Hilfsmaßnahmen. Gleichzeitig stellen sich Fragen zur Entstehung und Verwendung dieser Bilder – insbesondere mit Blick auf journalistische Sorgfalt und Verantwortung.

Recherchen der "Süddeutschen Zeitung" und anderer Medien zeigen, dass einzelne Bildmotive in sozialen Netzwerken oder Berichten teilweise ohne ausreichenden Kontext verbreitet wurden. So soll laut Medienberichten in Einzelfällen Bildmaterial verwendet worden sein, das nicht aus dem Gazastreifen stammt oder Situationen zeigt, die medizinische Ursachen abbilden, ohne dass diese Umstände in der Bildbeschreibung ersichtlich waren. In einem Fall sei ein Bild eines Kindes mit schwerer Vorerkrankung fälschlich als Beleg für Hunger präsentiert worden. Andere Aufnahmen sollen laut Berichten in medizinischen Einrichtungen außerhalb Gazas entstanden sein. Solche Beispiele werfen ethische Fragen n zum Umgang mit Bildern aus Krisengebieten auf.

Emotionalisierung oder bewusste Inszenierung?

Einige Medien, darunter "Bild.de", üben Kritik an der Auswahl bestimmter Bildmotive und äußern den Verdacht, dass einzelne Aufnahmen gezielt inszeniert oder auf bestimmte Wirkungen hin ausgewählt würden – etwa durch den Fokus auf Frauen und Kinder. Dabei wird auch auf die Zusammenarbeit mancher Fotografen mit internationalen Agenturen verwiesen. Solche Darstellungen werfen die Frage auf, ob journalistische Auswahlprozesse frei von politischen Narrativen ablaufen.

Die emotionale Wirkung dieser Bilder ist unbestritten: Sie können Betroffenheit auslösen, zu Spendenaufrufen führen und politischen Druck erzeugen. Internationale Hilfslieferungen wurden teils unter Bezug auf solche Aufnahmen intensiviert. Gleichzeitig mahnen Medienethiker zur Vorsicht: Nicht die Echtheit der Bilder steht primär infrage – sondern deren Kontext, Auswahl und Präsentation.

"Meister der Bildinszenierung"?

So weist der Historiker und Bildexperte Gerhard Paul in der Süddeutschen Zeitung darauf hin, dass Bilder aus Krisengebieten nicht immer eine neutrale Abbildung der Realität sind. "Das sind keine Fakes. Aber die Menschen werden in einer bestimmten Art und Weise präsentiert", erklärt Gerhard Paul in der "Süddeutschen Zeitung". Die gezielte Inszenierung – etwa durch gezielte Beleuchtung oder Anweisungen an die abgebildeten Personen – sei erkennbar. Insbesondere die Hamas sei ein "Meister der Bildinszenierung", sagt Paul.

©IMAGO / Anadolu Agency
©IMAGO / Anadolu Agency

Auch der Deutsche Journalisten-Verband betont, dass Kriegsparteien aller Seiten versuchen, Bildmaterial zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung zu nutzen – weshalb gerade hier besondere journalistische Sorgfalt geboten ist. Reporter ohne Grenzen weist zudem darauf hin, dass pauschale Vorwürfe gegen lokale Journalistinnen und Fotografen – etwa der gezielten Propaganda – deren Sicherheit gefährden können.

Gefahr für Fotografen – und für den Journalismus

Ein weiteres Problem: Wer Bilder inszeniert oder gezielt einseitig auswählt, riskiert nicht nur seine Glaubwürdigkeit, sondern auch die Sicherheit von Kolleginnen und Kollegen vor Ort. "Wer Fotografen pauschal als Propagandisten brandmarkt, bringt sie in Lebensgefahr", sagt Christopher Resch von Reporter ohne Grenzen gegenüber der "SZ".

Die journalistischen Bedingungen im Gazastreifen sind hoch problematisch: In vielen Teilen der Region haben internationale Reporter derzeit keinen Zugang. Die Kontrolle über Bildmaterial liegt häufig bei lokalen Akteuren oder wird durch militärische Vorgaben eingeschränkt. Diese Umstände erschweren die unabhängige Verifizierung von Bildquellen erheblich.

"Diese Bilder können uns erschüttern – und gleichzeitig lähmen"

Die emotionale Wucht der Bilder aus Gaza ist unbestritten – doch ihre Wirkung ist komplex. Steffen Siegel, Professor für Theorie und Geschichte der Fotografie an der Folkwang Universität der Künste in Essen, warnt im Gespräch mit der "Zeit" vor einem reflexartigen Umgang mit solchen Aufnahmen. "Bilder des Leidens – wie wichtig sie auch immer sind – können uns in eine Schutzhaltung treiben", sagte Siegel. Dies sei das Gegenteil dessen, was die Publikation dieser Bilder beabsichtige, nämlich Empathie und Engagement zu wecken.

In Anlehnung an Susan Sontags Essay Regarding the Pain of Others erklärt Siegel, dass wiederholte Konfrontation mit Leid auch zu Abwehrreflexen führen könne. Gleichzeitig könnten genau solche Bilder aber auch Auslöser für gesellschaftliche Mobilisierung sein – etwa für Proteste gegen den Krieg. "Doch helfen sie uns auch, die Wurzeln dieses Konflikts besser zu verstehen?", fragt der Experte. Häufig wirke die Bildsprache im Gazakonflikt so eindeutig, dass sie den Charakter von Propaganda annehme: "Wir sollen angestoßen werden, in eine bestimmte Richtung."

Auch mit Blick auf die eingeschränkte journalistische Lage in Gaza – internationale Reporter haben derzeit kaum Zugang – plädiert Siegel für eine besonders kritische Prüfung solcher Fotografien: "Wer berichtet hier wem und von welchen Interessen geleitet?" Die Umstände der Bildentstehung müssten konsequent hinterfragt und transparent gemacht werden, um mediale Vereinnahmung zu verhindern.

Die Macht der Bilder – und die Pflicht zur Einordnung

Unabhängige Organisationen wie die Vereinten Nationen belegen, dass die humanitäre Lage in Gaza äußerst angespannt ist – insbesondere mit Blick auf Ernährungssicherheit. Gleichzeitig zeigen sich Fachleute besorgt, dass emotional aufgeladene Einzelbilder ein verzerrtes Gesamtbild erzeugen können, wenn sie ohne Einordnung oder Kontext präsentiert werden.

Daher fordern Medienethiker und Journalistenorganisationen eine Rückbesinnung auf journalistische Kernwerte: Transparenz, sorgfältige Kontextualisierung und besondere Sensibilität im Umgang mit Bildern von Kindern, wie es auch der Ehrenkodex des Österreichischen Presserats verlangt. Die Darstellung von minderjährigen Opfern verlangt Zurückhaltung und Respekt vor ihrer Würde und Intimsphäre – gerade in Situationen großer Not. (VOL.AT)

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