Migranten können Rettungsschiff "Diciotti" verlassen
Dem Vize-Premierminister und Chef der fremdenfeindlichen Lega wird Amtsmissbrauch und Freiheitsberaubung vorgeworfen, wie die Nachrichtenagenturen Ansa und ADN Kronos am Samstag berichteten. Salvini bestätigte ein Verfahren gegen ihn.
Ministergericht
Ein sogenanntes “Ministergericht” wird die Vorwürfe prüfen, die die Staatsanwaltschaft der sizilianischen Stadt Agrigent gegen Salvini und seinen Kabinettschef erhoben hat. Dem Innenminister und Vizepremier wird Amtsmissbrauchs und Freiheitsberaubung vorgeworfen. Das Gericht, das für die Prüfung von Vergehen von Regierungsmitgliedern zuständig ist, muss die Dokumente der Staatsanwaltschaft prüfen. Salvini bezeichnete die gegen ihn aufgenommene Untersuchung als “Schande”. Er sei voll damit beschäftigt, Italiens Grenzen zu verteidigen. “Ich erwarte mir, dass die Staatsanwälte gegen Schlepper nicht gegen den Innenminister ermitteln”, kommentierte der Chef der rechten Lega-Partei.
Der Innenminister hatte angeordnet, die Mitte August im Mittelmeer geborgenen Menschen erst von Bord gehen zu lassen, sobald sich andere europäische Staaten zur Aufnahme einiger Migranten bereit erklären. Nach tagelangem vergeblichen Tauziehen mit anderen EU-Staaten sagten nun Albanien, Irland und die katholische Kirche in Italien zu, die verbliebenen rund 140 Migranten aufzunehmen.
“Eine Schande”
Um den Großteil der Migranten an Bord – nämlich 100 – kümmere sich die italienische Bischofskonferenz, teilte die Regierung in Rom mit. Albanien nimmt 20 Migranten auf, Irland zwischen 20 und 25. Diese hatten seit Donnerstag vor einer Woche auf dem Schiff der italienischen Küstenwache ausgeharrt.
Salvini kritisierte die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Agrigent gegen ihn scharf: “Es ist unglaublich, in einem Land zu leben, in dem vor zehn Tagen eine Brücke eingestürzt ist, unter der 43 Menschen gestorben sind, und es keinen gibt, gegen den ermittelt wird”, sagte er bei einem Auftritt im norditalienischen Pinzolo. “Und sie ermitteln gegen einen Minister, der die Grenzen des Landes verteidigt. Es ist eine Schande.” Vor der applaudierenden Menge fuhr er fort: “Ihr habt eine Regierung, die die italienischen Bürger bis zum Ende verteidigen wird.” Salvinis Umfragewerte sind seit dem Amtsantritt der neuen Regierung im Juni stark gestiegen.
Langfristige Lösung gefordert
Die Europäische Union forderte eine langfristige Lösung der Migrationsfrage. EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos sagte, er begrüße, dass eine Lösung gefunden worden sei und die Migranten nun von Bord gehen könnten, um behandelt zu werden. Das sei dank der Solidarität über Grenzen und Länder hinweg möglich gewesen. “Aber wir können nicht immer auf diese Art von Gefälligkeits-Solidarität warten. Wir müssen strukturelle Maßnahmen haben.”
Nach zahlreichen Attacken italienischer Regierungspolitiker gegen die EU in der Flüchtlingsfrage verwahrte sich EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos gegen die Kritik. Italiens Politiker müssten einsehen, “dass sie nicht allein sind, dass Europa ihnen zu helfen versucht”, sagte Avramopoulos der Zeitung “La Repubblica” vom Sonntag. “Im Gegenteil, wer die EU angreift, schießt sich damit selbst ins Knie.”
Seit Antritt der Regierung aus Lega und Fünf-Sterne-Bewegung vor gut drei Monaten fährt Italien einen harten Anti-Migrationskurs und macht Druck auf die EU. “Diese Regierung steht für eine rigorose und kohärente Migrationspolitik, überlässt die Menschen, die in Lebensgefahr oder kritischem Zustand sind, aber nicht sich selbst”, erklärte Premierminister Giuseppe Conte am Abend in einer Mitteilung.
Fronten verhärtet
Erst wurden zivilen Rettungsschiffen mit geretteten Migranten an Bord die Einfahrt in Häfen verwehrt, dann wurden auch Militär- oder Handelsschiffe teils tagelang im Mittelmeer blockiert. Immer wieder aufs Neue handelte Italien wie auch Malta mit einigen EU-Staaten wie Deutschland Lösungen aus. Doch im Fall der “Diciotti” blieben die Fronten verhärtet. Ein Treffen mit Vertretern von zwölf Mitgliedsstaaten am Freitag in Brüssel endete ergebnislos.
Italien droht nun deshalb, die Verhandlungen um den neuen EU-Haushaltsentwurf zu blockieren. Nachdem es auf EU-Ebene bisher keine Lösung für die Verteilung von Flüchtlingen gegeben habe, prüfe man, ein Veto in den laufenden Verhandlungen einzulegen, erklärte Premierminister Conte. Derzeit wird in der EU der Haushaltsrahmen für die Jahre 2021-27 diskutiert. Dieser muss von allen Mitgliedsstaaten gebilligt werden. “Italien nimmt zur Kenntnis, dass sich der ‘Geist der Solidarität’ kaum in konkrete Taten übersetzt”, teilte Conte mit. “Wir können uns nicht mit einem gemeinsamen Wirtschaftsraum zufrieden geben.”
(APA/ag./dpa)
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