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Der Tenno kam nicht nach Gokanosho

Einst waren Hängebrücken die einzigen Zugangswege zu den Gokanosho-Weilern
Einst waren Hängebrücken die einzigen Zugangswege zu den Gokanosho-Weilern ©VN-H. Steiner
Ein wildes Berggebiet ganz im Süden des japanischen Inselreichs ist ein exotisches Reiseziel – fernab der Erdbebenkatastrophe.
Japanische Impressionen

Auch im Angesicht der Katastrophe findet Alltag statt. Das gilt besonders für Japan, das mit dem Wiederaufbau der von der Flutwelle zerstörten Region in Nordost-Honshu beschäftigt ist und immer noch gegen die Folgen des GAUs im Unglücks-AKW-Komplex von Fukushima kämpft. Am weitesten von den Katastrophengebieten entfernt liegt Kyushu, die südlichste der vier japanischen Hauptinseln. Nagasaki, 1945 nuklear bombardiert, ist die bekannteste Stadt an der fast schon subtropischen Küste.

Die neue „Gewehrkugel“

Und auf Kyushu wurde just am 12. März, nur einen Tag nach dem Megabeben und dem Tsunami, von denen hier im Süden nichts zu spüren war, ein Meilenstein der japanischen Infrastruktur gesetzt: Das Routennetz des legendären Hochgeschwindigkeitszuges Shinkansen (=Gewehrkugel, wegen seiner Schnelligkeit) wurde offiziell um 150 km verlängert, von der Millionenstadt Fukuoka im Nordwesten der Insel zur 130.000 Einwohner zählenden Hafenstadt Yatsushiro. Eine Strecke, für die man nun mit dem Shinkansen nur noch eine halbe Stunde benötigt; von Osaka, fast 800 km entfernt in der Mitte Honshus gelegen, fährt man jetzt bloß dreieinhalb Stunden bis nach Yatsushiro – von Insel zu Insel gelangt der Zug über eine der spektakulärsten Brückenkonstruktionen der Welt.

Auf die üblichen Feierlichkeiten wurde damals vor einem halben Jahr klarerweise verzichtet, aber dennoch: Es ist tröstlich zu wissen, dass auch im schwer getroffenen Japan das Leben weiterging und Normalität praktiziert wurde.

Abseits der Touristenpfade

Auch als Reiseland hat Japan nichts von seinem Reiz verloren, und es spricht nichts dagegen, gerade das vom Unglück völlig verschonte Kyushu, das normalerweise abseits der üblichen Touristenpfade liegt, kennenzulernen.

Yatsushiro, nunmehr südlichster Punkt des Shinkansen-Streckennetzes, gilt dabei als besonders exotisches Reiseziel. Die Stadt selbst ist ein ruhiger Ort mit hoher Lebensqualität, erbaut rund um eine mächtige mittelalterliche Festung. Auch die Nachfahren der Fürstendynastie leben immer noch in Yatsushiro, ihr villenartiger Palast nebst Parkanlage kann besichtigt werden – und wenn der Hausherr anwesend ist, wird man durchaus auch einmal zu einer Tasse grünen Tee auf der mit Tatami-Reisstrohmatten ausgelegten Terrasse gebeten. Vom Schiffshafen ist es nur ein Katzensprung zu den idyllischen Amakusa-Inseln, die im 16. Jahrhundert christlich missioniert wurden (heute gibt es dort ein „Christentumsmuseum“), und als Tagesausflug kann man den Mount Aso besuchen, den größten Vulkankrater der Welt.

Ein wildes Hinterland

Am wildesten ist das Hinterland der Stadt, wo sich die Berge bis zu 1700 Metern Höhe auftürmen. Gokanosho heißt dieses einst beinahe unzugängliche Gebiet – heute fährt man eine halbe Stunde durch ein enges Tal, und man befindet sich im üppigen Grün eines regenreichen Dschungelwaldes. Der ist in tiefen, Schluchten und steilen Bergflanken gegliedert, zahlreiche Wasserfälle rauschen entlang der engen, kurvenreichen Straße. Ab und zu trifft man auf kleine Buddha-Tempel, Shinto-Götterschreine, Friedhöfe und Weiler mit ein paar Häusern, von denen eines meist ein Ryokan ist, ein japanisches Gästehaus traditioneller Prägung. Fast meint man, die Zeit wäre hier stehengeblieben.

„Gokanosho“, das bedeutet „Dorf der fünf Familien“, und die bloß 400 Bewohner sind – für ein dichtbesiedeltes Land wie Japan fast unglaublich – über ein Gebiet von der Hälfte der Fläche des Bundeslandes Wien verteilt. 400 Menschen mit einer bemerkenswerten Geschichte, die bis ins Jahr 1185 zurückreicht.

Wandern, baden, erkunden

Aktivurlauber können hier bergwandern, unter Wasserfällen baden, alte Fußwege mit (rekonstruierten) schluchtenquerenden Hängebrücken erkunden, und ein wenig außerhalb des eigentlichen Gokanosho gibt es auch einen Canyoning-Ausrüster. Man kann aber auch einfach herumfahren, geschichtsträchtige Orte besichtigen und sich von einheimischen Spezialisten wie Seichi Ogata bewirten lassen – Angst um seinen Kopf muss heute niemand haben, angesichts der reichhaltigen Köstlichkeiten der Küche eher um die Figur!

Einen Onsen gibt es in Herrn Ogatas Gästehaus auch, ein heißes Badebecken, ohne das ein Japaner im Urlaub niemals auskommt und das in der Morgen- wie in der Abendstunde eine wahre Wohltat ist.

Und wenn man aus dieser Welt der tiefen, dunkelgrünen Schluchten, der wilden Bergbäche und der waldwuchernden Gipfel wieder zurück in die Stadt kommt, dann mit dem Bewusstsein, ein Stück des alten Japan kennengelernt zu haben, das an einem Rückzugsplatz wie Gokanosho auch im 21. Jahrhundert noch existiert.

 

Kaiser Hirohito hätte sich im Krieg hier versteckt

Kaum zu glauben, aber wahr: Seichi Ogata kann seinen Stammbaum nicht weniger als 49 Generationen zurückverfolgen, bis zu den Heike-Samurai, von denen die meisten Bewohner Gokanoshos abstammen. Im Mittelalter lebte man hier völlig isoliert, niemand ahnte etwas von der Ansiedlung der nach einem verlorenen Bürgerkrieg flüchtigen Heike. Und kam doch einmal ein einsamer Wanderer, dann wurde er zunächst noch gastfreundlich bewirtet, im Schlaf aber um einen Kopf kürzer gemacht.
Im Heike-Museum, einem altehrwürdigen Holzhaus, wohnte früher der Clan-Chef. Herr Ogata öffnet eine Schublade: „Hier wurden einst die getrockneten Schädel der unsanft ums Leben gekommenen Gäste aufbewahrt. Und über uns befindet sich nicht etwa das Dach, sondern ein getarntes Zwischengeschoß, das als Versteck diente.“

Fast wäre es sogar vom japanischen Kaiser Hirohito genutzt worden – 1945 kamen Abgesandte des Kaiserhofs nach Gokanosho. Sie waren auf der Suche nach einem Zufluchtsort für den Tenno, für den Fall, dass die Amerikaner Japan mit kämpfenden Truppen besetzt hätten.

Ausgezeichnete Speisekarte mit Wild in Ogatas Ryokan

Wenn es heute noch so etwas gäbe wie einen Clan-Chef der Heike, dann wäre das Herr Ogata in eigener Person. Freilich ist er kein Krieger mehr wie seine Samurai-Vorfahren, aber immerhin ein geschickter Jäger. Wildschweine und Rotwild sind in Gokanosho wegen der durch sie verursachten Waldschäden eine Plage.

Mit dem Fleisch des erlegten Wildes reichert Seichi Ogata die Speisekarte seines Ryokan an, der in dem elf Häuser zählenden Weiler Shiibaru auf 800 Metern Seehöhe steht. Zimmervermietung an Touristen und ein kleiner Restaurantbetrieb sind nämlich der Hauptberuf von Herrn Ogata und seiner Frau Sayoko.

 

REISEINFOS

Anreise: Die Fluglinie ANA (All Nippon Airways) fliegt täglich von Frankfurt nach Tokyo. Für die Inlandsstrecke auf die Insel Kyushu hat man die Wahl zwischen dem Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen, der seit 12. März bis Yatsushiro fährt (ca. 6 Stunden), oder dem ANA-Inlandsflug (1,5 Stunden). Diese Inlandsflüge verkehren im Stundentakt und sind zumeist auf die Minute pünktlich, um der Shinkansen-Konkurrenz die Stirn zu bieten. (www.ana.co.jp).
Reiseorganisation: Wer nicht über japanische Sprachkenntnisse verfügt, wird sich mit der Vorbereitung einer Gokanosho-Reise recht schwer tun. Es gibt in Berlin einen (europaweit einzigen) Reiseveranstalter, Geoplan-Touristik, der mit örtlichen Partnern solch eine Tour organisieren kann: Geoplan-Touristik, Mohriner Allee 70, D – 12347 Berlin, Telefon +49 30 79742279, E-Mail: info@geoplan.net, www.geoplan-reisen.de

 

(VN)

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