Nur wenig später rief er die Bevölkerung über Twitter auf, sich der drohenden Machtübernahme entgegenzustellen. Seine Gegner dürften dies als bittere Ironie empfunden haben: Ausgerechnet Erdogan, der in der Vergangenheit unliebsame Kundgebungen unterbinden und die Zugänge zu sozialen Netzwerken in der Türkei sperren ließ, rief seine Landsleute im Onlinedienst Twitter zum öffentlichen Protest auf. Doch tatsächlich folgten tausende Türken dem Appell des umstrittenen “Sultans”, dem seit langem ein zunehmend autoritärer Regierungsstil vorgeworfen wird. Die Angst vor einem weiteren Putsch wog in den dramatischen Stunden offenbar schwerer als die Kritik am Demokratieverständnis des Staatschefs.
Erdogan überwindet Widerstände
Der Vollblutpolitiker hat im Verlauf seiner Karriere schon viele Widerstände überwunden. Erdogan, der als Sohn eines Küstenwächters im rauen Istanbuler Viertel Kasimpasa aufwuchs, machte sich zunächst in der islamistischen Bewegung einen Namen und eroberte 1994 das Rathaus seiner Heimatstadt mit ihren 15 Millionen Einwohnern.
Als Bürgermeister erwies sich Erdogan als durchsetzungsstarker Manager, bevor der Absturz folgte: Seine religiöse Partei wurde verboten. Weil ihm das Rezitieren eines islamischen Verses als Anstachelung zu religiösem Hass ausgelegt wurde, landete er vier Monate im Gefängnis. 2001 gründete er dann mit seinem langjährigen Verbündeten Abdullah Gül die islamisch-konservative Partei für Arbeit und Gerechtigkeit (AKP) – und gewann mit ihr seit 2002 jede Wahl. Die AKP sei sein fünftes Kind, sagte der Vater von zwei Töchtern und zwei Söhnen einmal.
Macht des Militärs nach und nach gebrochen
2003 wurde er Ministerpräsident, brach nach und nach die zunächst noch immense Macht des Militärs, überwand die notorische politische Instabilität, sorgte für wirtschaftlichen Aufschwung und strebte nach internationalem Einfluss.
Bestreben nach Islamisierung
Im Westen galt er einige Zeit als derjenige, der eine muslimische Musterdemokratie am östlichen Rand Europas aufbauen könnte. Aber bald wurden seine Bestrebungen zur Islamisierung der türkischen Gesellschaft sichtbar: Er ließ den Alkoholverkauf begrenzen, wollte getrennte Studentenwohnheime für Frauen und Männer einführen, das Küssen in der Öffentlichkeit verbieten lassen.
Kritiker: Knallharter Alleinherrscher
Und spätestens seit der blutigen Niederschlagung der Gezi-Proteste in Istanbul 2013 sehen Kritiker Erdogan auf dem Weg zum Alleinherrscher, der seine Gegner knallhart zum Schweigen bringt und sich als Präsident einen maßlosen Palast mit 1.150 Zimmern errichten ließ.
Die Parlamentswahl im Juni 2015 sollte der AKP wieder die absolute Mehrheit bringen, um die Macht des seit 2014 als Präsident amtierenden Erdogan per Verfassungsänderung ausweiten zu können. Als der Plan scheiterte, eskalierte der Kurdenkonflikt und Erdogan ging noch härter gegen Oppositionelle und kritische Journalisten vor. Bei der Neuwahl im November eroberte er dann die absolute Mehrheit zurück. In der Flüchtlingskrise wurde Erdogan inzwischen zu einem unverzichtbaren Partner für die EU.
Putsch traf Erdogan unerwartet
Der Putsch in der Nacht zum Samstag traf den Präsidenten offenbar völlig unvorbereitet. Auf den Umsturzversuch reagierte mit gewohnt markigen Worten. Die Verantwortlichen würden “einen hohen Preis für diesen Verrat zahlen”, kündigte Erdogan an. Es gilt als sicher, dass er diesen Worten Taten folgen lassen wird.
(APA)
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