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Das große Jucken

Ulrich Gabriel
Ulrich Gabriel

„Beweg dich! Und dein Gehirn sagt Danke!“ wird verkündet. Bewegung soll für Denken, Gemüt und Körper ein positiver Antrieb sein und der Krankenkasse Geld ersparen. Der Gegen-Satz dazu wäre, dass Stillstand für Denken, Gemüt und Körper kein positiver Antrieb ist. Ich bewege die rechte Hand und esse eine Kirsche.

Stephen Hawking wird neben Albert Einstein als großer Denker gefeiert. Er war Jahrzehnte an den Rollstuhl gefesselt, zuletzt konnte er nicht einmal mehr seine Finger rühren. Sein Körper hat sich nicht mehr bewegt, sein Gehirn umso mehr. Mit links nehme ich eine Kirsche. Ist Einstein gerannt? Hat er Gymnastik gemacht, gejoggt, geturnt? Eine tiefschwarze Kirsche ruft.

„Ich saz uf eime steine, und dahte bein mit beine; dar uf satzt ich den ellenbogen; ich hete in mîne hant gesmogen daz kinne und ein min wange. do dahte ich mir vil ange, wie man zer werlte solte leben (…).“ So beschrieb Walther von der Vogelweide einen Denker um 1200. Ich kann nicht aufhören mit der Kirschen-Bewegung. Sie hat ja auch einen Sinn. Mhm. Eine noch. Macht das Jucken eigentlich Sinn? Vielleicht als Vorsorge, damit uns die Beine nicht abfallen in 50.000 Jahren. Schnell zwei Kirschen jetzt.
Gymnasiasten gehen ins Gymnasium aber bewegen sich kaum. Bei den Griechen war Gymnasion ein Ort der körperlichen und geistigen Ertüchtigung für die männliche Jugend, wobei das Körperliche im Vordergrund stand. In den Gymnasien wurde nackt trainiert. Die heutigen GymnasiastInnen sitzen täglich fünf bis sieben Stunden ab, hängen im Stuhl. Außer in Turnen. Ich zähle schon neun Kerne.

Mit zunehmendem Alter wird Bewegung immer weniger. Irgendwann fällt auch der Turner bewegungslos ins Grab. Dornbirn setzt dem fünf Tage lang internationales JUCKEN entgegen. „Show your colours“, heißt es. Manche schwingen Bänder und Reifen, andere Tücher, Bälle, Seile. Das Werbe-Video zeigt junge JuckerInnen beim Einkaufswagenjucken im EKZ inmitten von Massenwarenregalen.

Massenturnen gleicht Militärparaden: exakt gleichmäßig antrainierte Abläufe. Drill. In Dornbirn mit Rad, Salto, Purzelbaum und Juckvater Jahn. Choreographierte Massengymnastik, wie sie Kim Jong un liebt, die Queen bewundert und bei Olympiaden den Volk „frisch & froh“ macht. Da wird nicht gespart. Man rühmt sich mit Gastfreundschaft und nennt es Friedensfest.

Vor dem Musée Rodin in Paris hockt ein nackter Mann auf einem Felsen und grübelt. Den Oberkörper leicht vornüber gebeugt, das Kinn auf die Hand gestützt, starrt er zu Boden. Er verkörpert das Nachdenken. „Le Penseur“ taufte ihn Auguste Rodin, der ihn vor über 130 Jahren in Bronze erschuf – den Denker. Er bewegt sich nicht. Mich juckts. Ich hol mir die letzte Kirsche. Mein Gehirn sagt: Danke.

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